Vorträge von Dr. Wolfgang Weihe

MS-Forum Dr. Weihe

Multiple Sklerose - zwischen Naturheilkunde und Schulmedizin

Meine sehr verehrten Damen und Herren, bei der Vorbereitung zu meinem Vortrag habe ich mich gefragt, ob ich denn überhaupt der rechte Mann bin, den naturheilkundlichen Standpunkt würdig zu vertreten, denn eigentlich waren es ja ganz andere Gründe, die mich vor vielen Jahren bewogen haben, Neurologe zu werden und mich mit der MS zu beschäftigen. Es war ganz im Gegenteil die Faszination der Technik (und zwar in Form der Kernspintomographie), die mich magisch anzog. Junge Ärzte wissen es nicht mehr so, aber für uns bedeuteten die neuen bildgebenden Verfahren eine Revolution in der Medizin. Zum ersten Mal war es möglich, einen Blick in den lebendigen Körper zu werfen, wie es zuvor nur dem Chirurgen vergönnt gewesen war (oder nach dem Tod dem Pathologen), und viele der Krankheiten, die man früher nur aufgrund von umständlichen klinischen Untersuchungen erahnen konnte, für das bloße Auge sichtbar zu machen. Das traf für den Hirntumor in gleicher Weise zu wie für den Bandscheibenvorfall - und natürlich auch für die geheimnisvollste neurologische Krankheit, die MS. Die MS hatte sozusagen ein Gesicht bekommen, das mit den vielen weißen Punkten einem Sternenhimmel glich, und lange Zeit erlagen wir der Versuchung, das Bild der MS im Kernspintomogramm mit der MS selbst gleichzusetzen. Aber es liegen Welten dazwischen, und es soll in meinem Vortrag nicht zuletzt darum gehen, das nüchterne Bild des Forschers mit dem lebendigen Bild des wirklichen MS-Kranken zu verbinden. Mein Vortrag hat vier Teile. Im 1. Teil werde ich die Hauptgegensätze zwischen Schulmedizin und Naturheilkunde skizzieren. Dann werde ich auf den Begriff der „Heil“-Entzündung eingehen und eine Antwort auf die Frage versuchen, ob das schnellere Abklingen eines MS-Herdes unter Cortison evtl. zu teuer erkauft ist. Der 3. Teil ist den neuen immunmodulatorischen Substanzen gewidmet, die von den einen als therapeutischer Durchbruch gefeiert, von den anderen als Geschäft mit der Angst abgelehnt werden, und im letzten Teil werde ich mich mit den Prinzipien der Ganzheitsmedizin auseinandersetzen und Ihnen verraten, was ich selbst tun würde, wenn ich eine MS hätte.

Was ist die MS?

Beginnen möchte ich jedoch mit einer kurzen Skizze zur gängigen MS-Theorie. Sie liest sich wie ein spannender Krimi. Während der Kindheit soll ein unbekannter Erreger, man vermutet, daß es sich um ein Virus handelt, unbemerkt in das Gehirn eindringen, sich dort in die weiße Hirnsubstanz, das Myelin, einnisten und zunächst einmal in einen langen Schlaf fallen. Viren sind einmal scherzhaft als eine „schlechte Nachricht, eingehüllt in Protein“ bezeichnet worden. Sie besitzen also eine Eiweißhülle und an der werden sie von Lymphozyten als Fremdkörper erkannt. Nun gibt es aber einen Trick, das Abwehrsystem zu täuschen, indem es sich wie der Wolf mit einem Schafspelz verkleidet. Ein Virus, das in einen Mantel gehüllt ist, dessen Oberfläche körpereigenen Substanzen, z.B. dem Myelin, täuschend ähnlich ist, kann sich unbemerkt in das Gehirn einschleichen und lange Zeit unentdeckt bleiben. Nun wacht das Virus aus noch nicht näher bekannten Gründen viele Jahre später auf und versucht, seinen Zufluchtsort zu verlassen. Wenn es dabei mit Lymphozyten in Berührung kommt, erkennen diese endlich, daß es sich um einen Eindringling handelt, der sich unter falscher Flagge eingeschmuggelt hat, und versuchen, ihn zu eliminieren.

In der Hitze des Gefechts zerstören sie aber nicht nur das Virus, sondern auch die Struktur, die es zu seinem Schutz imitiert hat. Auf diese Weise leben die Betroffenen in einer ständigen Bedrohung, denn bisher weiß niemand, wer der Eindringling ist und was die Entzündungsschübe auslöst.

I. Schulmedizin und Naturheilkunde - zwei feindliche Schwestern?

Was sind eigentlich die Hauptgegensätze zwischen Naturheilkunde und Schulmedizin? Es muß Anfang der 80er Jahre gewesen sein, daß ich während eines Kongresses in Lindau mehr oder weniger zufällig in einen schulmedizinischen Vortrag geriet, der sich mit der Naturheilkunde befaßte. Ich erinnere mich, als ob es gestern gewesen wäre. Der Vortragende wandte sich mit Pathos gegen Scharlatanerie, romantische Naturverklärung und therapeutischen Nihilismus, machte sich über die Homöopathie lustig und höhnte über Diät, Akupunktur und die Technikfeindlichkeit. Es sei eine ungeheuerliche ideologische Verblendung, mit der Natur blühende Wiesen, Bauern auf dem Felde und den Geruch wilder Kräuter zu verbinden und diese den Reagenzgläsern, Fabrikschloten und Abwässern der Chemie gegenüberzustellen. In unfairer Weise werde eine Verbindung geknüpft zwischen der Zerstörung der Umwelt und dem Einsatz von Chemie gegen Krankheiten. Die Natur sei nur in Rousseauschen Phantasien „gut“, ihr anderes Gesicht seien aber Seuchen, Sturmfluten, Vulkanausbrüche und Erdbeben. Und was die Psychosomatik anbelange, so möge sie gut sein für Menschen mit Neurosen oder eingebildeten Krankheiten. Nur habe sie dort nichts verloren, wo ernsthafte Erkrankungen vorlägen. Wer einem unheilbar kranken Menschen zu seiner Verzweiflung auch noch den Vorwurf aufbürde, selbst daran schuld zu sein, handele unmenschlich. Das war der Tenor seiner Streitrede, die mit großem Beifall bedacht wurde. In mir regte sich ein Unbehagen, aber ich traute mich nicht zu widersprechen. Da bat ein älterer Mann ums Wort. Es möge wohl sein, sagte er, daß sich die Homöopathie wissenschaftlich nicht begründen lasse, viele Ärzte Akupunktur betrieben, nicht weil sie davon etwas verstünden, sondern weil sich viel Geld damit verdienen lasse, und es werde sicher auch viel Leid erzeugt durch das Ungeschick von psychotherapeutisch orientierten Kollegen. Aber müsse man sich nicht auch, wenn man ehrlich sei, an die eigene Brust klopfen und sich selbst genau den Vorwürfen stellen, die man den sog. Außenseitern mache? Mit der Wissenschaftlichkeit sei es doch auch in der Schulmedizin nicht weit her. Trotz der größten Anstrengungen seien die Ursachen der meisten Krankheiten wie z.B. der Arteriosklerose und des Krebses immer noch nicht geklärt. Wie wolle man sie da wissenschaftlich begründet behandeln? Dem Unwissen hinsichtlich der Ursache der Krankheiten auf der einen Seite stehe eine Unmenge von Medikamenten auf der anderen Seite gegenüber. Allein in Deutschland seien mehr als 50.000 Arzneimittel auf dem Markt. Nach nüchterner Einschätzung seien weniger als 500 Wirkstoffe hilfreich, und trotzdem kämen jährlich Tausende hinzu. Immer mehr Menschen hätten also das Gefühl, daß in unserem Gesundheitssystem ökonomische Interessen an erster Stelle stünden. Diese unerfreuliche Entwicklung mache leider auch vor der Hausarztpraxis nicht halt. Das Abrechnungssystem lasse es nicht zu, daß sich ein Arzt noch Zeit für seine Patienten nehmen könne und um ihre Sorgen im Beruf und ihre Probleme in der Ehe Bescheid wisse. Könne man da nicht die Menschen verstehen, die nach einer persönlicheren Medizin Ausschau hielten? Nach der Veranstaltung traf ich den mutigen Kollegen vor dem Hörsaalgebäude. Wir gingen zum Ufer des Bodensees hinunter, und er erzählte mir von seinem Alltag als Landarzt, weit entfernt von jeder Universität, von Menschen, die abergläubisch sind, ein gutes Wort der Aufmunterung und des Trostes brauchen und eine große Abneigung haben vor der erdrückenden Technik und der Verlorenheit in den modernen Kliniken. Wir sprachen darüber, ob nicht die Anerkennung der Naturheilkunde durch schwer nachvollziehbare Theorien behindert werde? Zum Beispiel die Kernthese der Homöopathie, daß eine geringe Menge einer Substanz genau die Krankheit heile, die sie in größeren Mengen verursache. Müsse man den Kritikern nicht Recht geben, wenn sie dieses Prinzip mit einem mittelalterlichen Exorzismus verglichen, indem man versuche, den Teufel, nämlich die Krankheit, mit dem Beelzebub auszutreiben? „Ich weiß“, sagte er, „auf den ersten Blick sieht es so einleuchtend aus, daß man einen kranken Menschen heilen will, indem man dem, was ihn krank gemacht hat, entgegenwirkt - so wie man ein Feuer mit Wasser löscht. Die Homöopathie sieht das genau anders herum. Ihr Begründer ist Samuel Hahnemann, ein Zeitgenosse von Goethe. Nach seinem Medizin- und Chemiestudium eröffnete er eine Praxis für Allgemeinmedizin in Dresden und lernte den Alltag des Arztes kennen: Aderlässe, Blutegel, Schröpfköpfe, Klistiere, Gebrauch giftiger Chemikalien wie Arsen, Blei und Quecksilber. Aber er hatte nicht das Gefühl, heilen zu können. Die Nebenwirkungen übertrafen die Erfolge. Als er Vater wurde und seine Kinder durch ernsthafte Erkrankungen bedroht wurden, mußte er die quälende Erfahrung machen, ihnen nicht helfen zu können, wurde von Skrupeln geplagt und gab seine Praxis auf. In dieser Zeit entwickelte er die Homöopathie aus einer einfachen Überlegung. Das Ungleichgewicht ist nicht das Wesen der Krankheit, sondern bereits ein Gegensteuern des Körpers. Der Körper kämpft gegen die Krankheit an und muss in seinem Kampf unterstützt werden. Die Krankheitssymptome sind also schon Selbstheilungsversuche. Und wenn man es so sieht, dann ist es klar: man muss sie unterstützen und darf ihnen nicht entgegenwirken. Das Besondere ist, daß nach dieser Auffassung die Krankheit nicht als ein außer Kontrolle geratener Betriebsunfall, sondern als Gesundungsprozeß aufgefaßt wird, der durch winzige Mengen des Stoffes, der die Krankheit ausgelöst hat, unterstützt und angeregt werden soll. Und überlegen Sie einmal: Wird nicht auch bei einer Impfung eine Krankheit genau durch das verhütet, das sie hervorruft? Und heilt man nicht eine Übelkeit bei einer Magenverstimmung dadurch, indem man Erbrechen provoziert? Oder denken Sie an die Desensibilisierungsbehandlung von Allergien.“ So hatte ich das bisher noch nicht gesehen, und ich war etwas verunsichert. Kurze Zeit später kamen wir auf die romantische Vorstellung vom Heilgärtlein der Natur zu sprechen. Es gebe diesen Heilgarten wirklich, meinte er. Jede siebente Pflanze sei eine Heilpflanze. Dann zählte er auf: Fingerhut zur Stärkung der Herzkraft, Opium gegen Schmerzen, Johanneskraut gegen Depressionen, Hanf gegen Muskelverspannungen, Baldrian und Melisse zur Beruhigung, Rosmarin zum Anregen, schwarzer Tee als harntreibendes Mittel, Lindenblütentee, um Fieber zu erzeugen, Pfefferminz-Öl gegen Kopfschmerzen und nicht zuletzt Rettichsaft gegen Husten. Seit diesem Gespräch sehe ich die Naturheilkunde mit anderen Augen. Wenn man beides gegeneinander abwägt, Schulmedizin und natürliche Therapien, scheint eine ganze Menge dafür zu sprechen, aus jeder Denkrichtung das Gute zu nehmen und miteinander zu kombinieren. Das hat übrigens auch August Bier versucht, der durch die Einführung der Spinalanästhesie bekannt geworden ist. Er war der Vorgänger von Sauerbruch in der berühmten Berliner Charité. Besonders wichtig für unser Thema ist, daß er in der Entzündung keinen sinnlosen Prozeß sah, der das Leben gefährdet, sondern einen zweckmäßigen Vorgang, der dem Versuch der Selbstheilung dient. So sprach er auch gern von der „Heil-entzündung“, so wie er auch den Ausdruck „Heilfieber“ gebrauchte. Entzündung und Fieber sind demgemäß keine Krankheiten, sondern zweckmäßige Abwehr- und Selbstheilungsversuche des Körpers. Das mag auf den ersten Blick merkwürdig erscheinen. Darum möchte ich es am Beispiel von Cortison näher erläutern.

II. Cortison

Gibt es eine „Heil“-Entzündung oder ist das schnellere Abklingen eines MS-Herdes unter Cortison zu teuer erkauft? Unter der Annahme, daß die MS eine Autoaggressionskrankheit ist, bei der „wildgewordene“ Lymphozyten die weiße Hirnsubstanz zerstören, wird Cortison bei der MS eingesetzt, um die Angriffslust der weißen Blutkörperchen zu dämpfen. Die Cortison-Therapie hat viele verwirrende Aspekte. Es beginnt damit, daß Cortison zusammen mit Adrenalin und Noradrenalin ein Stresshormon ist und die Kampfbereitschaft, den Blutdruck und den Blutzucker erhöht. Gleichzeitig unterdrückt es aber die Wundheilung und die Immunabwehr. Deshalb gilt es auch in der Chirurgie als ein schwerer Kunstfehler, wenn man eine Wunde mit Cortisonsalbe behandelt oder einem frisch Operierten Cortison verabreicht. Die Merkwürdigkeit, auf die ich hier hinweisen möchte, ist also, daß man versucht, eine Entzündungskrankheit dadurch zu behandeln, indem man den Körper unter Stress setzt und ihm ein Medikament gibt, das die Abheilung beeinträchtigt. Ein weiterer erstaunlicher Punkt ist, daß es bei einem so wirkungsvollen Medikament bisher nicht gelungen ist, die optimale Dosierung herauszufinden. In den sechziger Jahren war es Standard, jeden Patienten mit einem frischen Schub über eine Woche mit zweimal 50mg Prednisolon i.m. pro Tag zu behandeln. Dann setzte sich eine Zeitlang die Behandlung in Tablettenform durch, und jetzt wird seit Beginn der neunziger Jahre in vielen Kliniken eine hochdosierte Infusionstherapie mit 1000 mg Prednisolon über 3 bis 7 Tage durchgeführt. Keine der Behandlungen hat sich den vorangegangenen gegenüber als nachweisbar überlegen erwiesen, und es ist damit zu rechnen, daß es schon bald zu einer neuen „Mode“ in der Cortisontherapie kommen wird. Sie ist bereits in Sicht: die Intervalltherapie mit Cortison. Dabei sollen die Patienten regelmäßig alle 3 Monate eine dreitägige hochdosierte Infusionstherapie bekommen, unabhängig davon, ob sie Schübe haben oder nicht. Es gibt also eine ganze Reihe von Unklarheiten, was die Behandlung mit Cortison betrifft, daneben aber auch einige echte Probleme. Das größte sind die Nebenwirkungen, nicht nur das kosmetisch entstellende Vollmondgesicht und die Akne, sondern auch die erhöhte Gefahr ein Magengeschwür zu bekommen oder eine Lungenembolie zu erleiden, und vor allem die Knochenerweichung (Osteoporose), die nach einer zu häufigen Anwendung auftritt. Der Kalk löst sich in den Knochen auf, und sie zerbrechen bei geringster Belastung. Die betroffenen Patienten leiden unter schlimmsten Schmerzen, die selbst durch Morphium nicht gelindert werden können. Trotzdem ist Cortison bei den Patienten sehr beliebt. Das hat zwei Gründe: Es verkürzt den Schub und hinzu kommt, daß es einen euphorisierenden Effekt hat, d.h. daß sich die Patienten unter Cortison stimmungsmäßig „besser“ fühlen. Die Cortisonwirkung ist oft so eindrücklich, daß man sich ihrer Überzeugungskraft kaum entziehen kann. Man muß sich das möglichst plastisch vor Augen halten, um nicht in der Diskussion aneinander vorbeizureden, denn als Gesunder ist man allzu leicht geneigt, den Glauben von MS-Patienten an „ihr“ Cortison als kritiklos abzutun, wenn man den zauberhaften Effekt nicht am eigenen Leib gespürt hat. Stellen Sie sich einmal einen Patienten vor, der seit einer Woche ein ringförmiges Spannungsgefühl unterhalb des Rippenbogens verspürt, als werde er von einer Riesenfaust umklammert. Wegen zunehmender Gangstörungen wird er bettlägerig und gleich unter der ersten Infusion mit Cortison bemerkt er, wie sich seine Lebensgeister erholen, und bereits am nächsten Tag ist er wieder in der Lage, kurze Strecken zu gehen. Wer so etwas einmal erlebt hat, hat wenig Verständnis für Ärzte, die sagen, daß Cortison bei der MS eher schade als nutze.

Die Schübe bilden sich lediglich schneller, aber nicht besser zurück.

Aber die Bedenken bleiben: Unter Cortison bilden sich die Ausfälle lediglich schneller, aber nicht besser zurück, und die Hauptsorge ist, daß Cortison die Abheilung der Entzündungsherde beeinträchtigt. Wie kann das sein, werden sich viele von Ihnen fragen, wenn sich die Symptome doch offensichtlich bessern? Wenn ein MS-Herd entsteht, bildet sich um ihn herum eine entzündliche, wässerige Schwellung aus, ganz ähnlich wie bei einem Insektenstich. Man spricht auch von einem Umgebungsödem. Dieses läßt den Herd größer erscheinen, als er in Wirklichkeit ist. Cortison wirkt nun wie ein Schwamm oder Löschpapier, es saugt das Wasser aus dem geschwollenen Gewebe, und es kommt zu einer raschen Besserung, weil der Druck auf die Nerven nachläßt. Doch das Wunder ist nur scheinbar, weil die Besserung nach ein paar Tagen auch ohne das Cortison eingetreten wäre. Es besteht also absolut kein Zweifel daran, daß durch Cortison die Rückbildung der Symptome beschleunigt wird, aber es ist durchaus nicht sicher, ob dadurch auch der Heilungsprozeß selbst günstig beeinflußt wird. Schließlich handelt es sich ja bei dem Umgebungsödem um eine vernünftige Reaktion des Körpers. Wenn man es vorzeitig zum Abklingen bringt, besteht die Gefahr, daß die Entzündung nicht gründlich genug bekämpft wird, und daß es zu einer zu schnellen und unvollständigen Narbenbildung kommt, die evtl. zu einem immer neuen Aufflackern der Entzündung in alten MS-Herden führt.

Je früher, desto besser?

Was bei vielen Krankheiten gilt, je früher man sie behandelt, desto besser heilen sie aus, gilt bei der Cortisontherapie der MS nicht. Nicht alles Gute kommt aus Amerika, aber ich denke, man sollte es mit Cortison so handhaben, wie es die Engländer und Amerikaner tun: Sie warten erst einmal ab, ob es sich um einen leichten Schub handelt, der sich von allein wieder zurückbildet. Sind die Ausfälle jedoch erheblich, so daß z.B. jemand die Gehfähigkeit verliert, wegen „tanzender“ Augen nicht mehr lesen kann oder wegen einer schweren Ataxie gefüttert werden muss, dann sollte man sich trotz aller Bedenken für diese Therapie entscheiden. Dasselbe ist der Fall, wenn die Ausfälle über mehr als 7 Tage langsam fortschreiten.

III. Die sog. immunmodulierenden Substanzen - Geschäft mit der Angst?

Was das Cortison aus schulmedizinischer Sicht für den akuten Schub ist, sind die Beta-Interferone, das Glatirameracetat und die Immunglobuline für den Langzeitverlauf der MS. Wie bei der Cortison-Therapie ist der Nutzen dieser neuen Medikamente umstritten. Die einen glauben, daß endlich ein Durchbruch in der MS-Therapie erzielt worden sei, die anderen sind durch den großen Werberummel mißtrauisch geworden, stehen den Ergebnissen der wissenschaftlichen Studien skeptisch gegenüber, halten sie für wenig überzeugend und den etwaigen Nutzen durch die Nebenwirkungen zu teuer erkauft. Manche sprechen sogar von einem Triumph der Statistik über den gesunden Menschenverstand. Besonders umstritten ist die Empfehlung, mit den neuen Therapien möglichst frühzeitig, also am besten gleich nach dem ersten Schub zu beginnen. Hierbei spielt die überholte Auffassung eine Rolle, die MS sei eine Erkrankung, die unerbittlich fortschreite und über kurz oder lang zu Rollstuhlabhängigkeit und Pflegebedürftigkeit führe. Darum müsse sie so früh wie möglich gebremst werden. Diese Fehleinschätzung ist historisch bedingt und hat etwas damit zu tun, daß die Diagnose noch vor wenigen Jahrzehnten außerordentlich schwierig war. Die Dunkelziffer war hoch, und es wurden hauptsächlich die Fälle diagnostiziert, die so dramatisch verliefen, daß man sie einfach nicht übersehen konnte. Aus diesem Grund wurde der Ruf der MS von den ungünstigsten Verlaufsformen bestimmt. Seit der Einführung der Kernspintomographie werden jedoch immer häufiger leichte und leichteste Verlaufsformen gefunden, die sich früher jedem Nachweis entzogen hätten. MS-Spezialisten schätzen, daß 50% der MS-Erkrankungen asymptomatisch, also klinisch unbemerkt verlaufen. Es gibt also ein breites Spektrum von MS-Verläufen, das sich von „stummen“ Formen über milde Ausprägungen mit wenigen Schüben bis hin zu aggressiven Verlaufstypen erstreckt, die innerhalb von Wochen und Monaten zu Bettlägerigkeit und sogar zum Tod führen können. Viele Ärzte sind deshalb der Ansicht, daß eine Behandlung gleich nach dem ersten Schub bei einer großen Zahl der Betroffenen überflüssig wäre, da die Krankheit auch ohne Medikamente einen günstigen Verlauf nehmen würde. Wegen der doch erheblichen Nebenwirkungen müsse die Indikation in jedem Einzelfall sorgfältig erwogen werden. Wie das aussehen könnte, möchte ich Ihnen an zwei Beispielen erläutern.

Fall 1: Eine 37jährige Lehrerin hat seit 12 Jahren eine MS. Sie berichtet, daß sie im letzten Jahr sechs und in diesem Jahr bereits fünf Schübe erlitten habe. Sie ist leicht gehbehindert, die Gehstrecke beträgt ca. 1 km. Auf die Frage, wie genau sich die letzten Schübe bemerkbar gemacht hätten, berichtet sie, eigentlich sei es immer dasselbe: Es beginne damit, daß sie Gefühlsstörungen im rechten Bein bekomme. Gleichzeitig werde es schwer wie Blei und außerdem verspüre sie ein Druckgefühl unterhalb des rechten Rippenbogens. Es stellt sich heraus, daß ihre MS auch mit derselben Symptomatik begonnen hat. Die Kernspintomographie zeigt nur einen einzigen Herd im Rückenmark in Höhe des 8. Brustwirbelkörpers. Das Gehirn ist völlig herdfrei. Ihre Neurologin drängt sie, eine Behandlung mit Betainterferonen zu beginnen.

Was meinen Sie? Man könnte meinen, daß die Häufigkeit der Schübe ein eindeutiges Kriterium für den Beginn einer Betainterferon-Therapie sei. Aber schauen wir uns den Fall einmal näher an. Sie hat immer wieder dieselben Symptome, und eine Kontrolle der Kernspintomographie zeigt, daß keine neuen Herde hinzugetreten sind. An dieser Stelle ist ein Unterscheidung von größter Bedeutung. In Deutschland werden immer noch „echte“ Schübe, also neue, vorher nicht bekannte Symptome, die ein sicherer Hinweis dafür sind, daß sich zusätzliche Herde gebildet haben, und das Wiederaufflackern von altbekannten Symptomen in einen Topf geworfen. Nur langsam setzt sich die Einsicht durch, daß eine strikte Trennung notwendig ist, denn Schübe mit neuen Herden sind natürlich ungünstiger als ein alter Herd, der (möglicherweise als Folge einer Cortisonbehandlung) nicht zur Ruhe kommt. Trotz der scheinbar hohen Schubrate kommt also im vorliegenden Fall eine Betainterferon-Behandlung nicht in Frage, weil die Krankheitsaktivität sehr gering ist.

Fall 2: Bei einer 28jährigen Bankangestellten ist seit zwei Jahren eine MS bekannt. Jetzt hat sie nach einem Indienaufenthalt einen zweiten Schub erlitten, nachdem sie an einer anstrengenden Bergwanderung in Katmandu teilgenommen hatte. Vorher hatte sie sich gegen Hepatitis B impfen lassen. Sie wollte sich und ihrem Freund zeigen, daß ihr die MS nichts anhaben könne. Im Krankenhaus habe ihr der Chefarzt gesagt, wenn sie sich nicht mit Betainterferonen behandeln lasse, müsse sie damit rechnen, daß die Krankheit weiter fortschreite.

Man kann es auch anders sehen. Die Patientin hat sich unvernünftig verhalten. Sie hat den zweiten Schub geradezu provoziert, indem sie nicht nur in ein Land mit hohen Temperaturen gereist ist, sondern sich auch noch zusätzlich einer immensen körperlichen Strapaze unterzogen hat. Außerdem sollte man sich als MS-Betroffener sehr gut überlegen, ob man nicht lieber auf Auslandsreisen, die eines Impfschutzes bedürfen, verzichten sollte. Hier steht also die Vermeidung auslösender Faktoren vor einer medikamentösen Behandlung.

Die immunmodulatorische Stufentherapie oder MS und Zytostatika

Ich komme nun zu einem besonders traurigen Kapitel der MS, wo die Gegensätze zwischen Schulmedizin und Naturheilkunde am deutlichsten zutage treten. Auch wenn sich das Erscheinungsbild der MS so sehr zum Positiven gewandelt hat, gibt es Verläufe, die erschütternd sind. Die MS kann grausam sein. Sie kann Sie wie eine Betrunkene taumeln und Ihre Augen tanzen lassen. Sie kann Sie an den Rollstuhl fesseln - und sie kann Sie sogar töten. Jeder Arzt kennt das Gefühl der quälenden Hilflosigkeit diesen Verläufen gegenüber. Was soll er tun? Stellen wir uns vor, zwei Ärzte unterhalten sich, nachdem sie gemeinsam eine schwerkranke junge Frau mit MS in Ihrem Zimmer aufgesucht haben. Sie ist 17 Jahre alt und noch vor 6 Wochen eine fröhliche Gymnasiastin gewesen. Jetzt ist sie ein Wrack, zittert am ganzen Körper, kann ihr Bett nicht mehr verlassen und muß gefüttert werden. Beide sind erschüttert. Der eine, der jüngere von beiden, drängt darauf, alles auf eine Karte zu setzen. Er will nicht vor der Krankheit kapitulieren und das Mädchen kampflos seinem Schicksal ausliefern. Er hält Zytostatika für die letzte Chance. „Wir können doch nicht einfach nur zusehen“, sagt er. „Auch wenn die Therapie aggressiv ist; schließlich handelt es sich ja auch um eine aggressive Krankheit. Und so, wie die Sache steht, können wir ja nichts verlieren.“ Der andere weist darauf hin, daß es keine wissenschaftlichen Studien gibt, welche die Wirksamkeit von Zytostatika bei MS beweisen. Außerdem will er die Kranke nicht zusätzlich mit den Nebenwirkungen quälen. Und nach langem Zögern kommt er zu dem entgegengesetzten Entschluß: „Wenn wir nicht wissen, ob es besser ist, etwas zu tun, was eine zusätzlich Gefährdung bedeuten kann, oder es zu lassen, dann sollten wir es lassen.“ An dieser Stelle fallen oft die bösen Worte vom „blinden Aktionismus“ und „therapeutischen Nihilismus“, welche die Diskussion beenden, aber nie bereichern. Beide Ärzte unterscheiden sich nicht hinsichtlich ihres Wissens; sie unterscheiden sich durch das Bild, das sie von der Krankheit, vom Arztberuf und von sich selbst haben. Und nicht selten ist es auch eine Frage des Alters. Ein junger Arzt neigt eher dazu, die Krankheit zu bekämpfen wie Siegfried den Drachen, während der ältere im Laufe seines Lebens zurückhaltender geworden ist.

IV. Der ganzheitliche Therapieansatz

Wie könnte ein naturheilkundlicher Therapieansatz aussehen?

Damit sind wir auf der anderen Seite der Medizin angelangt. Wenn man wie August Bier Schulmedizin und Naturheilkunde miteinander verbindet und dies mit einer psychosomatischen Sichtweise kombiniert, spricht man von Ganzheitsmedizin. Sie beruht auf 5 Grundprinzipien:

1. die Ganzheitlichkeit, von der dieser Ansatz seinen Namen hat. Damit ist gemeint, daß Körper und Seele nicht zu trennen sind und zwischen ihnen ein kompliziertes Netz von Wechselbeziehungen existiert;

2. wird vom Patienten erwartet, daß er Mitverantwortung für seine Gesundung übernimmt;

3. wird der Einzigartigkeit jedes Menschen eine hohe Bedeutung zugemessen;

4. wird eine Selbstheilungskraft des Organismus angenommen, die mit Hilfe natürlicher Verfahren gefördert werden soll.

5. wird alles gemieden, was in irgendeiner Weise zu einer zusätzlichen Schädigung führen könnte, weshalb man auch von einer „sanften“ Therapie spricht.

Einiges davon habe ich bereits angesprochen: Die Mitverantwortung, der jungen MS-Betroffenen, welche die Bergwanderung in Katmandu unternahm, die Selbstheilungskraft des Körpers, die möglicherweise durch Cortison geschwächt wird, und die Entscheidung für eine sanfte Vorgehensweise am Beispiel der Zytostatika. Bleiben die Einzigartigkeit und die Ganzheitlichkeit, also die Zusammenhänge zwischen Körper und Seele, die für sich allein ein eigenes Thema sind. Für heute nur so viel: Ein entscheidender Wesenszug der MS ist, daß sie sich in einem labilen Gleichgewicht, also in einer Pattsituation zwischen der Aggressivität des Erregers und der Verteidigungskräfte Ihres Körpers befindet. Schließlich zeigen ja sowohl die Rückbildung der Symptome als auch die langen Ruhephasen zwischen den Schüben, daß es Ihrem Immunsystem möglich ist, die Krankheit in Schach zu halten. In den vielen Fällen, wo es sich nur um eine leichte Form der MS handelt, kann es nur dann zu einem Schub kommen, wenn die Abwehrkräfte darniederliegen. Darum kann es wichtiger sein, körperliche und seelische Überlastungen zu vermeiden, als den Erreger zu bekämpfen. Hippokrates, der Vater der Medizin, kannte keine Erreger und keine Irrtümer im Immunsystem als Ursache von Krankheiten. Für ihn war Krankheit ein Ungleichgewicht der Körpersäfte; krank war der Mensch als Ganzer. Nach seiner Meinung beschreibt die Diagnose nur etwas Oberflächliches, das einigen Betroffenen gemeinsam ist, aber das Wesentliche nicht trifft. In der Tiefe habe jeder seine eigene Krankheit, die geprägt wird von seiner Konstitution, seinem Temperament, seiner Erziehung und seiner Lebensweise. Erst im Mittelalter hat man versucht, Krankheiten zu personifizieren wie das Böse mit dem Teufel. Seit jener Zeit hält sich hartnäckig die Vorstellung, Krankheit sei so etwas wie ein haariges, wildes Monster, das den Menschen befalle wie ein Parasit. Das hat entscheidende Auswirkungen auf die Therapie gehabt. Während man früher davon ausgegangen war, man könne das in Unordnung geratene Gleichgewicht durch eine Rückkehr zu einer vernünftigen Lebensweise wieder herstellen, versucht man jetzt, die Krankheit auszurotten wie Unkraut in einem Garten.

Die MS ist als die „Krankheit mit den 1000 Gesichtern“ bezeichnet worden. Daraus folgt zunächst: Es gibt kein allgemein verbindliches Therapieschema für die MS, denn wenn die Krankheit selbst so einzigartig ist, muss auch die Therapie einzigartig sein. Aber noch etwas anderes ist wichtig: Eine der Besonderheiten der MS ist, daß der Patient jahrelange Erfahrung mit seiner Erkrankung hat, jede Nuance spürt, wie die MS auf seelische Belastungen, körperliche Anstrengungen, das Wetter, Medikamente, bestimmte krankengymnastische Übungen, Hitze, Massagen usw. reagiert, und sich deshalb in vielerlei Hinsicht viel besser auskennt als ein noch so guter Arzt.

IV. Was würde ich tun, wenn ich selbst eine MS hätte?

Trotzdem werden einige von Ihnen wissen wollen, wie eine MS aus ganzheitlicher Sicht konkret behandelt werden kann. Die Frage läßt sich am besten beantworten, wenn ich mir vorstelle, ich wäre selbst an einer MS erkrankt.

1. wäre es für mich wichtig, einen Arzt oder eine Ärztin zu finden, dem oder der ich vertraue, jemanden, der mich zu Wort kommen lässt, mir zuhört und das, was ich gesagt habe, sorgfältig in seinem Rat mitberücksichtigt.

2. Oberstes Prinzip bei der Behandlung wäre für mich das Prinzip, keinen zusätzlichen Schaden zuzufügen. Ich wäre mißtrauisch gegenüber allen therapeutischen Moden, weil ich weiß, wie wenig sich in den letzten 3 Jahrzehnten bewährt hat.

3. würde ich zunächst einmal auf eine vernünftige Lebensweise und pflanzliche Heilmittel setzen. Bei jedem Schub würde ich übervorsichtig sein. Das beste Heilmittel ist Ruhe und nicht Cortison. Wer das entzündliche Ödem auf eine sanfte Weise zum Abschwellen bringen will, dem sei empfohlen, mit 3mal 3 Tabletten Phlogenzym zu beginnen. Je nach Besserung der Symptomatik sollte die Reduktion in eigener Regie erfolgen. Wenn die Ausfälle allerdings von Anfang an gravierend sein sollten, oder wenn leichtere Symptome über länger als eine Woche fortschreiten, würde ich allerdings trotz der genannten Bedenken nicht zögern, mich mit Cortison behandeln zu lassen.

4. Zwischen den Schüben würde ich den sogenannten Antioxydantien-Cocktail einnehmen: - Vit E 300 mg/Tag - Vit C 1 gestrichener Teelöffel/Tag - Selen 200 µg/ Tag - Zink 25 mg/Tag (meiner Ansicht nach reichen 100µg Selen und 10mg Zink/Tag) Zur Erklärung: Das Gehirn verbraucht 20% des im Blut transportierten Sauerstoffs, obwohl es gewichtsmäßig nur 2% des Körpers ausmacht. Es enthält also unverhältnismäßig viel Sauerstoff und dementsprechend entstehen auch viele Sauerstoffradikale. Außerdem ist bei psychologischem Streß die Produktion von freien Radikalen erhöht. Vitamin E ist Bestandteil aller biologischen Membrane. Seine wichtigste Funktion besteht darin, Membranfette vor dem Ranzigwerden durch Oxidationsprozesse zu schützen. Schon lange wird es als Oxidationsschutz bei pflanzlichen Ölen und Fetten eingesetzt. Wenn z.B. Myelin mit einem aggressiven Sauerstoffradikal in Berührung kommt, wird eine Kettenreaktion in Gang gesetzt, die von Fettmolekül zu Fettmolekül springt und damit zur Entstehung schwerer Membranschäden beitragen kann. Ursache der Kettenreaktion ist, vereinfacht gesagt, ein fehlendes Elektron, das von den freien Radikalen gestohlen wird. Dies wird durch Vitamin E ersetzt, und der Zerstörungsvorgang damit beendet. Nun fehlt dem Vitamin E ein Elektron. Das bekommt es von Vitamin C und ist dann wieder einsatzfähig. (Selen ist notwendig, um den Schutzstoff Glutathion-Peroxidase aufzubauen.)

5. Zusätzlich würde meine Frau darauf bestehen, jeweils im Frühjahr und im Herbst eine Ginseng-Kur zu machen.

6. Beim Nahen einer Grippe würde ich das Vitamin C erhöhen und evtl. zusätzlich Echinacea, das ist Purpursonnenhutkraut, 3mal täglich einen Messlöffel voll nehmen, auch wenn im Beipackzettel etwas anderes steht. (oder Meditonsin Aconitum D6 und anderes)

7. Die Spastik, Schmerzen und Übelkeit würde ich mit Cannabis behandeln, und wenn ich eine Blasenstörung hätte, würde ich es mit Inconturina SR (Goldrutenkraut) 3mal 25 Tr. versuchen. Bei der Trigeminusneuralgie hilft manchmal Traumeel S (u.a. Arnica, Calendula und Chamomilla in homöopathischer Dosierung) dreimal 1 Tablette und bei Konzentrations- und Gedächtnisstörungen Gingko.

8. Das Müdigkeitssyndrom würde ich als vernünftige Stimme des Körpers sehr ernst nehmen: Es warnt mich vor Überlastung und schützt mich davor, einen neuen Schub zu provozieren. Schließlich ist ja davon auszugehen, daß sich der MS-Kranke in einer immerwährenden Rekonvaleszenz befindet. Es kann auch ein Hinweis darauf sein, daß eine frühzeitige Berentung erwogen werden sollte. Einige berichten, es werde durch Johanniskraut besser. In vielen Fällen sind Entspannungsverfahren sinnvoll, z.B. Yoga, Qi Gong, autogenes Training oder Phantasiereisen.

9. Ganz besonderen Wert würde ich auf eine vernünftige Ernährung legen. Es gibt keine MS-Diät, aber mindestens drei rationale Erwägungen, die zu berücksichtigen sind:

a) spricht vieles dafür, daß es sich bei der MS um eine Krankheit handelt, die erstmalig zu Beginn des 19. Jahrhunderts aufgetreten ist. Es könnte sich also wie bei der Arteriosklerose um eine Zivilisationskrankheit handeln, die mit unserer modernen Lebensweise zusammenhängt.

b) In Norwegen erkranken arme Fischer fünfmal seltener an MS als reiche Bauern.

c) Japan und Korea liegen etwas auf demselben Breitengrad wie Deutschland, sollten also dieselbe MS-Häufigkeit haben. Tatsächlich beträgt sie jedoch nur 1/10 der unsrigen.

Die Richtlinien für eine vernünftige Ernährung bei der MS ergeben sich somit aus der Beantwortung der folgenden drei Fragen:

- Wie unterscheidet sich hinsichtlich der Ernährung unser Jahrhundert, in dem die MS häufig ist, von der Zeit, in der es keine MS gab? Antwort: z.B. durch Konserven, Auszugsmehle und hohen Zuckerkonsum.

- Was unterscheidet die Ernährung der armen Fischer in Norwegen von der der reichen Bauern? Antwort: Sie ist fischreich und fettarm.

- Wie unterscheidet sich die Ernährung der Japaner und Koreaner, die selten am MS erkranken, von der unsrigen. Antwort: Sie essen wenig Fett, wenig Fleisch, viel Fisch, viel frisches Gemüse und Reis anstelle von Kartoffeln.

Daran würde ich mich halten. Aber niemals darf eine Diät dazu führen, daß sie jemanden zum Sklaven macht oder ihm die Lebensfreude nimmt.

10. Ob ich auch den Rat eines Psychotherapeuten einholen würde? Ja, wenn ich den Eindruck hätte, daß sich meine MS unter seelischen Belastungen verstärkt. Denn wenn eine Krankheit auf die Lebensumstände reagiert, dann ist es auch wahrscheinlich, sie durch eine Änderung der Lebensumstände in den Griff zu bekommen.

Wie erkennt man Scharlatane?

Natürlich gibt es auch in der Ganzheitsmedizin und in der Naturheilkunde fließende Übergänge zur Bereicherung und Scharlatanerie. Wie kann man sie erkennen? Wir sollten uns getrost auf unseren gesunden Menschenverstand verlassen. Er trügt selten. Beispiel: Die Erklärung für den Antioxydantien-Cocktail ist mit dem gesunden Menschenverstand gut zu verstehen. Weniger nachvollziehbar ist die folgende Erklärung, die von Hulda Clark in ihrem Buch „Heilung ist möglich“ für eine revolutionäre Technik zur Behandlung chronischer Erkrankungen angegeben wird. Sie glaubt, daß die meisten Krankheiten durch Parasiten wie Leberegel und Bandwürmer verursacht werden, aber von der Schulmedizin nicht erkannt werden. Jeder Parasit sendet eine „Biostrahlung“ aus, die dem asiatischen Chi verwandt sein soll. Unter Anleitung von Frau Clark kann man sich nun aus einem Schuhkarton und einem Dutzend elektronischer Bauteile ein Gerät basteln, den sogenannten Zapper, mit dem man die Parasiten abtöten kann.

Verlässliche Faustregeln, das Wertvolle vom Betrug und Unsinn zu scheiden, gibt es nicht. Ich persönlich halte mich im Zweifel an die folgenden Kriterien: Zunächst ist mir jeder Heilkundige verdächtig, der eine Sprache spricht, die ich nicht verstehe, und der bevorzugt Erkrankungen behandelt, die in Schüben, Attacken oder mit episodischen Verschlimmerungen auftreten, bei denen also die Rückbildung der Symptome zum natürlichen Krankheitsverlauf gehört. Größte Vorsicht ist geboten, wenn er neben seiner eigenen Meinung nichts gelten lässt. Mißtrauisch macht es mich, wenn der Name und die Herkunft der verordneten Heilmittel exotisch sind, und wenn die Einnahme ein kompliziertes Ritual erfordert, das genau eingehalten werden muß. Je mehr ein Mittel den Anspruch erhebt, ein Allheilmittel zu sein, also nicht nur gegen MS, sondern gleichzeitig gegen Rheuma und Alzheimer wirkt, desto fragwürdiger ist es. Und ein nahezu sicheres Zeichen von Scharlatanerie ist, wenn das Medikament nicht in Apotheken erhältlich ist und von dem Heilkundigen, der es empfiehlt, selbst hergestellt und für teures Geld verkauft wird. Ich denke, daß es mit diesen Faustregeln gelingt, den Weizen von der Spreu zu trennen, aber nicht ganz. Es werden immer in 5% Therapien übrigbleiben, die, obwohl sie gut sind, erst einmal mit Schimpf und Schande abgelehnt werden. Aber ich bin überzeugt, daß alles, was gut ist, sich letztendlich doch durchsetzt. Und so lautet die letzte Regel: Wenn ein Medikament neu ist, warte erst einmal ab, ob es sich bewährt. Über die meisten Wundermittel spricht man nach ½ Jahr nicht mehr. Und wenn es angeblich die Wiederentdeckung eines uralten Rezeptes ist, dann frage dich, ob es nicht vielleicht zu Recht in Vergessenheit geraten ist.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, damit bin ich am Schluss meiner Ausführungen angelangt. Ich fasse zusammen:

1. Naturheilkunde und Schulmedizin unterscheiden sich im wesentlichen dadurch, daß Krankheit für die Schulmedizin einen aus den Fugen geratenen Prozess darstellt, der durch gegensteuernde Maßnahmen bekämpft werden muß. Aus der Sicht der Naturheilkunde aber handelt der Körper auch im Krankheitsfall richtig, indem er sinnvolle Abwehrmaßnahmen einleitet, die durch behutsames Eingreifen seitens des Arztes unterstützt werden sollen.

2. In diesem Sinne spricht die Naturheilkunde auch von einer „Heil“-Entzündung. Die entzündlichen Veränderungen in einem MS-Herd sind also kein Krankheitszeichen, sondern bereits ein Selbstheilungsversuch des Körpers. Das erklärt die Zurückhaltung gegenüber einer Therapie mit Cortison.

3. Auch die meisten Mittel der Schulmedizin stammen aus dem „Heilgärtlein der Natur“, sind also pflanzlicher Herkunft oder sind von natürlicherweise im Körper vorkommenden Stoffen abgeleitet. Das trifft auch für das Cortison und die Beta-Interferone zu.

4. Durch die Verfeinerung der diagnostischen Möglichkeiten werden in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr „Mini-Formen“ der MS diagnostiziert, die auch ohne medikamentöse Behandlung einen gutartigen Verlauf nehmen. Aus diesem Grund ist das „Schreckensbild“ der MS, wie es immer noch in der Bevölkerung vorherrscht, nicht mehr haltbar. Es sollte alles getan werden, um skrupellose Geschäftemacher (sowohl unter den Vertretern von Außenseitermethoden, aber auch in den Reihen der etablierten Medizin) daran zu hindern, ein Geschäft mit der Angst zu machen, indem sie jungen Menschen mit einem gutartigen Verlauf einreden, sie müßten sich mit teuren und nebenwirkungsreichen Medikamenten schützen. In den meisten Fällen verläuft die MS so milde, daß sie allein mit einer Umstellung der Lebensweise, einer gesunden Ernährung und naturheilkundlichen Maßnahmen in den Griff zu bekommen ist. Die Entscheidung, ob eine gutartige MS oder eine aggressivere Form vorliegt, ist oft schon zu Erkrankungsbeginn möglich. Allerdings braucht man dazu viel Erfahrung mit der MS, gute kernspintomographische Kenntnisse und viel Zeit, denn die braucht man, um die Krankheit auch vor dem lebensgeschichtlichen Hintergrund zu verstehen.

5. Weder durch die Puls-Therapie mit Cortison, noch durch die Einführung der Beta-Interferone ist der erhoffte Durchbruch in der MS-Behandlung erzielt worden. Der Einsatz dieser Medikamente sollte nur dann erwogen werden, wenn sich Hinweise auf eine aggressive Verlaufsform finden. Jeder Patient ist schlecht beraten, wenn er einseitig auf Medikamente (und das gilt auch für Vitamine) setzt und dabei eine gesunde Ernährung und eine Harmonisierung der Lebensweise vernachlässigt. Während Letzteres für die Arteriosklerose und den Herzinfarkt allgemein anerkannt ist, besteht für die MS noch ein erheblicher Nachholbedarf, der zum Teil auf ungenügende Aufklärung, zum Teil aber auch auf Bequemlichkeit zurückzuführen ist.

6. Es gibt Naturheilkundler, die einfach nicht auf dem neuesten Stand sind, aber auch Schulmediziner, die ihr Wissen ausschließlich aus Werbebroschüren beziehen. Und es gibt dumme Ärzte und sehr kluge Naturheilkundler. Der Unterschied zwischen beiden Gruppen liegt nicht, wie es häufig dargestellt wird, im Intelligenzquotient und der Belesenheit, sondern in einer grundverschiedenen Einstellung der Natur und den menschlichen Fähigkeiten gegenüber.

7. Während die Schulmedizin gefährdet ist, sich von der Pharmaindustrie beeinflussen zu lassen, läuft die alternative Therapie Gefahr, zur Scharlatanerie zu entarten. Der Arzt muss sowohl widerstehen, wenn ihm ein Arzneimittelvertreter als Dank für die häufige Verordnung eines teuren Medikaments eine Reise im Orient-Express anbietet, aber auch eine Grenze zur anderen Richtung hin ziehen. Für mich kann ich nur sagen, daß ich drei Gruppen von Maßnahmen unterscheide: Zur ersten Gruppe, von deren Wirksamkeit ich überzeugt bin, gehören Harmonisierung der Lebensweise, Vollwertkost, die Feldenkrais- bzw. Sowi-Methode, Cannabis, Ginseng, die Vitamine C und E und die Enzymtherapie, zur zweiten Gruppe, deren Wirksamkeit nicht ganz so sicher ist, Nachtkerzenöl, Weihrauch und Selen, und zur dritten Gruppe, die aus tiefster Seele ablehne, die Entfernung von Amalgam, die Ernährung nach Blutgruppen, die Therapie mit Schlangentoxinen und den Zapper von Hulda Clark.

8. Ich bin überzeugt, daß es in der Medizin keinen Sachverhalt gibt, der so schwierig ist, daß er einem Patienten nicht erklärt werden kann. Und ich bin überzeugt, daß ein Patient umso besser mit seiner Krankheit umgehen kann, je mehr er darüber weiß.

In Wirklichkeit sind Schulmedizin und natürliche Therapien keine Gegensätze, sondern ergänzen sich gegenseitig und bauen aufeinander auf. Wir sollten die Fortschritte der Medizin dankbar anerkennen, z.B. die phantastischen diagnostischen Möglichkeiten wie die Kernspintomographie, aber auch die Cortisontherapie, die in Einzelfällen lebensrettend sein und schweres Leid lindern kann. Mir gefällt das Bild vom Haus der Medizin: Unten, im Erdgeschoss, ist alles untergebracht, was man selbst tun kann, also gesunde Ernährung, Stressabbau, z.B. weniger Überstunden, Verzicht auf den Urlaub in der Karibik und Psychotherapie. Falls das nicht ausreicht, geht man ein Stockwerk höher zu den naturheilkundlichen Maßnahmen. Und wenn das nicht nützt, sollte man sich nicht scheuen, die Hilfe der Schulmedizin in Anspruch zu nehmen, die im obersten Stockwerk wohnt. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

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Multiple Sklerose und Psyche

Einleitung
Nehmen wir nun das, was Sie alle am eigenen Leib erfahren haben. Ihr normales Leben endete in dem Augenblick, als Ihnen die Diagnose mitgeteilt wurde. Viele berichten, daß es sie mit der Gewalt eines Naturereignisses traf, eines persönlichen Erdbebens, das ihnen den Boden unter den Füßen wegriß. Man fühlt sich an Persephone erinnert, die Jungfrau aus der griechischen Mythologie, die auf einer Wiese Blumen pflückte, als sich der Boden vor ihr auftat und aus dem tiefsten, dunkelsten Schlund der Erde Hades aufstieg, der Herr der Unterwelt. Er riß sie in seine schwar-ze, von Rappen gezogene Kutsche und stürzte in wildem Ritt mit ihr in die Tiefe. Die Erde schloß sich über ihnen, als sei nichts geschehen. In dem einen Moment hatte Persephone nichts anderes im Sinn, als die schönen Blumen, die sie pflücken wollte. Der Himmel war blau, die Sonne schien und alles war gut. Aber wenige Sekunden später war nichts mehr wie zuvor. Ein Wort, eine Diagnose, kann Sie vernichten wie ein tödlicher Pfeil. Manchen Menschen ist es jedoch gegeben, im Augenblick der Bedrohung etwas ganz anderes, Entgegengesetztes zu sehen: Wie kostbar das Leben ist. Ich bin überzeugt, daß dieser Gedanke keine Täuschung ist, er ist auch nicht nur ein Trost, sondern er hat wirkliche Heilkraft. Üblicherweise wird die MS als eine rein organische Krankheit aufgefaßt, die zu Seh-, Gefühls- und Gangstörungen führt, den Geist und das Denken jedoch unbe-rührt läßt. Ich möchte heute mit Ihnen eine andere Auffassung diskutieren, dass es nämlich gerade die Vielfalt der Verflechtungen zwischen Körper und Seele ist, die diese Krankheit so interessant und einzigartig macht. Mein Vortrag hat vier Teile. Zu Beginn werde ich über das häufige Fatigue- oder Müdigkeitssyndrom sprechen. Im Zentrum des zweiten Teils steht die sehr viel seltenere Abnahme der Hirnleistungsfähigkeit bei der MS. Dann werde ich auf die Begriffe MS-Euphorie und Hysterie eingehen und zum Schluß die Frage diskutieren, ob es psychische Auslöser für die MS gibt. Die meisten MS-Erkrankungen verlaufen stumm. Beginnen möchte ich jedoch damit, daß sich das Bild der MS in den letzten Jahrzehnten grundlegend gewandelt hat. Das Schreckensbild einer Krankheit, die wie eine lautlose Katastrophe über junge Menschen kommt, unerbittlich fortschreitet und über kurz oder lang zu Rollstuhlabhängigkeit und Pflegebedürftigkeit führt, ist verblaßt. Das hat etwas damit zu tun, dass die Diagnose einer MS noch vor wenigen Jahrzehnten außerordentlich schwierig gewesen ist. Die Dunkelziffer war sehr hoch, und es wurden hauptsächlich die Fälle diagnostiziert, die so dramatisch verliefen, dass man sie einfach nicht übersehen konnte. Aus diesem Grund wurde das Erschei-nungsbild der MS von den schlimmsten Verlaufsformen bestimmt. Seit der Einführung der Kernspintomographie werden jedoch immer häufiger leichte und leichteste Verlaufsformen diagnostiziert, die sich früher jedem Nachweis entzogen hätten. Namhafte MS-Spezialisten schätzen, dass 50% der MS-Erkrankungen asymptoma-tisch, also klinisch stumm verlaufen. Es gibt also ein breites Spektrum von MS-Verläufen, das sich von asymptomati-schen, das heißt klinisch stummen Formen, über milde Ausprägungen mit einem oder wenigen Schüben bis hin zu aggressiven Verlaufstypen erstreckt, die innerhalb von Wochen und Monaten zu Bettlägerigkeit und Tod führen können. Wie die Häu-figkeitsverteilung genau ist, kann niemand sagen, aber es ist vernünftig anzunehmen, dass sie die Form einer Pyramide hat, dass also die breite Basis von den stummen und milden Verlaufstypen eingenommen wird und die weniger günstigen For-men in den sich verjüngenden höheren Etagen anzusiedeln sind bis hin zur Spitze, wo sich die aggressivsten Verläufe befinden. Diese Pyramide ist mit einem Eisberg zu vergleichen, vom dem nur die Spitze zu sehen ist, und die große Masse seines Körpers unter der Wasseroberfläche verborgen bleibt.

I. Das chronische Fatigue-Syndrom

Soweit der Überblick. Ich komme nun zu einem Hauptsymptom der MS, das regelmäßig zu Missverständnissen führt. Lassen Sie mich mit einem Fall beginnen. Frau F. ist eine attraktive Frau Anfang vierzig, elegant gekleidet und sonnengebräunt. Niemand käme auf die Idee, dass sie eine MS hat. Und genau darunter leidet sie. In der Öffentlichkeit hält sich hartnäckig das Vorurteil, MS-Kranke würden sich mühsam an zwei Krücken durch das Leben schleppen oder seien an den Rollstuhl gefesselt. Ist das nicht der Fall, wird vorschnell vermutet, dass es sich wohl gar nicht um eine MS handele, oder dass es sich der Betreffende mit seiner Krankheit sehr bequem mache. „Ich weiß", sagt Frau F., „nach außen sehe ich aus wie das blühende Leben. Aber niemand kann sich vorstellen, wie es mir unter der Fassade geht. Ich fühle mich ausgebrannt und leer. Morgens nach dem Aufstehen meine ich manchmal, ich könn-te Bäume ausreißen, aber wenn ich nur die Treppe runter und wieder rauf gegangen bin, um die Zeitung zu holen, bin ich so erschöpft, als hätte ich tatsächlich eine ganze Eiche gefällt." Was Frau F. schildert, ist eines der häufigsten und fast immer verkannten MS-Symptome. Man spricht von einem Fatigue-Syndrom. Fatigue stammt aus dem Französischen und bedeutet „Müdigkeit". Und tatsächlich ist die Müdigkeit das füh-rende Symptom. Manche Patienten sagen auch, dass sie sich wie eine leere Batterie fühlen, die man immer wieder auflädt, aber gleich wieder erschöpft ist.

Die Epidemie im Royal Free Hospital

Das Fatigue- oder Müdigkeitssyndrom kommt übrigens auch als eigenständige Erkrankung vor. Berühmt geworden ist diese durch eine merkwürdige Epidemie, die 1955 im Royal Free Hospital, eines der großen Lehrkrankenhäuser Londons, ausgebrochen ist. Insgesamt erkrankten 292 Mitarbeiter mit Kopfschmerzen, Fieber und Lymphknotenschwellungen, so dass das angesehene Krankenhaus für mehrere Mo-nate seine Pforten schließen musste. Ganz offensichtlich handelte es sich um eine ansteckende Krankheit; doch was war der Auslöser? Der größte Teil des Personals erholte sich relativ rasch, doch was vielen zu schaffen machte, war eine bleibende hochgradige Erschöpfung. Als die Geschichte veröffentlicht wurde, kamen sofort aus allen Teilen der Welt Berichte über ähnliche Ausbrüche. Darum ist es umso erstaunlicher, dass in den 60er Jahren zwei Psychiater die Hypothese aufstellten, die Epidemie im „Royal Free" sei gar keine "richtige" Krankheit gewesen, sondern ein wunderbares Beispiel für eine Massenhysterie. Seitdem hat das Müdigkeitssyndrom das Stigma der eingebildeten Krankheit, obwohl es einen nachdenklich stimmen sollte, dass die beiden Ärzte keinen einzigen der betroffenen Patienten selbst untersucht hatten. Aber auch heute noch wird das Fatigue-Syndrom von vielen Ärzten unter dem Etikett "neurotisches Fehlverhalten" geführt.

Das Epstein-Barr-Virus und das Pfeiffersche Drüsenfieber

Andere Ärzte schuldigten ein Virus an, das nach seinen Entdeckern Epstein-Barr-Virus genannt wird. Es ist übrigens dasselbe Virus, das in der Vergangenheit wiederholt in den Verdacht geraten ist, die Ursache der MS zu sein. Es gehört zu der Gruppe der Herpesviren und irgendwann einmal im Leben befällt es praktisch jeden von uns. In der Pubertät kann die Infektion als Pfeiffersches Drüsenfieber mit eitri-ger Angina und allgemeiner Lymphknotenschwellung in Erscheinung treten. Da es am häufigsten von Mund zu Mund übertragen wird, wird es auch als „Kußfieber" bezeichnet. Das Epstein-Barr-Virus gilt aus drei Gründen als hochverdächtig: Erstens sind bei allen MS-Patienten ohne Ausnahme Antikörper gegen das Epstein-Barr-Virus nachweisbar, und zweitens ist die Wahrscheinlichkeit an einer MS zu erkranken, nach dem Pfeifferschen Drüsenfieber um das zwei- bis dreifache erhöht. Drittens, und das ist vielleicht der interessanteste Befund, konnte vor kurzem nachgewiesen werden, daß jeder MS-Schub von einem Anstieg der Antikörpertiter gegen das Epstein-Barr-Virus begleitet werden.

II. Langsames Nachlassen der Hirnleistung

Die leichte Erschöpfbarkeit der MS-Kranken ist von einer Hirnleistungsschwäche zu unterscheiden. Man meidet zwar darüber zu sprechen, aber diese kommt bei MS-Patienten tatsächlich vor. In seltenen Fällen kann sie sehr ausgeprägt sein und einer Demenz täuschend ähnlich sehen. Auch hierzu ein Beispiel. Ich erinnere mich noch gut an einen 23jährigen Mathematikstudenten, der wegen eines akuten MS-Schubes zu uns kam. Bei der Erhebung des psychischen Be-fundes ergab sich erschreckenderweise, dass er nicht mehr in der Lage war, ein-fachste Rechenaufgaben, wie z.B. 23 + 15 zu lösen. Eigentlich hatte er bei der Aufnahmeuntersuchung nicht auffällig gewirkt, vielleicht etwas zerstreut und gedankenverloren, wie man es bei hochintelligenten Menschen nicht selten findet. Als er sich aber wiederholt in der Klinik verlaufen hatte, führten wir den bei dieser Fragestellung hilfreichen Kurztest durch. Dabei werden die Patienten gebeten, sich die drei Wörter Zitrone - Schlüssel - Ball zu merken. Anschließend müssen sie fünf-mal 7 von 100 abziehen und dann die drei Wörter wiederholen. Bei den Subtraktionen machte er drei Fehler, und danach konnte er sich an kein einziges Wort erinnern. Beunruhigt durch die Hochgradigkeit der Ausfälle, die wir in diesem Ausmaß bei der MS noch nicht erlebt hatten, schauten wir uns in der Röntgenabteilung die Kern-spin-Bilder des jungen Mannes noch einmal genau an. Dabei richtete sich unser Au-genmerk vor allem darauf, ob wir neben den MS-Herden eventuell einen anderen wichtigen krankhaften Prozeß z.B. eine ausgeprägte Hirnatrophie übersehen hatten. Es gibt nämlich eine zählebige Theorie, dass das Nachlassen der Hirnleistung auf einer Größenabnahme des Gehirns beruht, dass das Gehirn also schrumpft wie ein Apfel, der im Keller überwintert. So überzeugend dieses Bild auch ist, es hat sich herausgestellt, dass es sogar bei der Alzheimerschen Krankheit falsch ist, die ja die typischste Form der Demenz darstellt. Der Alzheimer-Kranke wird nicht dement, weil Hirnzellen zugrunde gehen und deswegen sein Gehirn schrumpft, sondern weil die vielfältigen Verzweigungen der Hirnzellen absterben, mit denen sie untereinander Kontakt aufnehmen. Eine Hirnatrophie war bei dem Mathematikstudenten nicht nachweisbar, aber es fiel etwas auf, das wir zwar früher schon gelegentlich beobachtet hatten, ohne ihm jedoch eine besondere Bedeutung beizumessen: eine hochgradige Verschmälerung des Hirnbalkens.

Merkwürdige Ausfälle bei Split-Brain-Patienten

Noch bis vor kurzem war dem Hirnbalken wenig Beachtung geschenkt worden. Wie Sie wissen, kreuzen die Nervenbahnen, die vom Gehirn zum Körper ziehen. Damit ist die rechte Hirnhälfte für die linke Körperseite und die linke Hirnhälfte für die rechte Körperseite zuständig. Im übrigen nahm man an, dass sich beide Hirnhälften in ihrer Funktion nicht wesentlich voneinander unterscheiden, und der in der Mitte liegende, bananenförmige Hirnbalken schien keine weitere Aufgabe zu haben, als die rechte und die linke Hirnhälfte zusammenzuhalten. 1936 berichtete ein bedeutender amerikanischer Neurochirurg, dass sich nach der Durchtrennung des Hirnbalkens von vorne nach hinten keine Symptome einstellten. So entstand die Idee, ob man nicht Patienten, die unter schweren und häufigen epi-leptischen Anfällen litten, die das gesamte Gehirn strohfeuerartig in einen Zustand höchster Erregung versetzten, dadurch helfen könne, indem man den Hirnbalken der Länge nach spaltet, was auf Englisch "to split the brain" heißt. Man nimmt nämlich an, dass die Anfälle in einer Hirnhälfte beginnen und auf dem Weg über den Hirnbalken auf die Gegenseite übergreifen. Auf diese Weise hoffte man zu erreichen, dass die Anfälle wenigstens auf eine Hirnhälfte beschränkt blieben. Nach der Operation berichteten einige Patienten über sonderbare Schwierigkeiten: Zum Beispiel konnte es zu einem Widerstreit der Hände beim Anziehen kommen, wobei die eine Hand das Hemd auf-, die andere zuknöpfte. Eine andere Patientin erzählte, morgens vor dem Kleiderschrank habe sie mit der einen Hand eine rote Bluse gewählt, die ihr die andere wieder fortgerissen habe. Erst durch eine raffinierte Untersuchungstechnik erkannte man, dass der Hirnbalken eine mächtige Verbindung zwischen den beiden Hirnhälften darstellt und aus 200 Millionen Nervenfasern besteht, von denen 100 Millionen von links nach rechts und 100 Millionen in umgekehrter Richtung verlaufen. Daneben ergab sich die interes-sante Tatsache, dass beide Hirnhälften spezialisiert sind, und dass wir nicht ein Hirn, sondern zwei Hirne haben, wobei das rechte Gehirn das intuitive, künstleri-sche und das linke das berechnende, logische Gehirn ist. Damit beide Gehirne sich ergänzen können und es nicht zum Widerstreit von zwei verschiedenen „Seelen" in unserer Schädelkapsel kommt, ist es von ausschlaggebender Bedeutung, dass beide Gehirne ständig miteinander kommunizieren; und genau das tun sie über den Hirnbalken. Zurück zur MS. Man hatte schon seit langem versucht, die geistig-seelischen Beeinträchtigungen bei MS-Kranken mit der Zahl der MS-Herde und mit dem Grad der äußeren und inneren Atrophie des Gehirns zu korrelieren. Ein eindeutiger Zusam-menhang war jedoch nie gefunden worden. Bei der Ausmessung des Hirnbalkens konnte zum ersten Mal eine verläßliche Beziehung zwischen der Verschmälerung dieser Struktur und der Hirnleistungsschwäche nachgewiesen werden: Je dünner der Hirnbalken, desto ausgeprägter das Psychosyndrom.

Häufig kommt es zu entwürdigenden Fehleinschätzungen. Ich möchte noch einmal auf das Fatigue-Syndrom zurückkommen: Seltsamer Weise hat es weder etwas mit der Balkenverschmälerung noch der Zahl der MS-Herde zu tun. Da dieser Sachverhalt wenig bekannt ist, kommt es nicht selten zu verletzenden Fehleinschätzungen. Auch hierfür ein Beispiel: Herr G. hat seit 6 Jahren eine MS. Obwohl er sonst nur wenige Ausfälle hat, leidet er unter einem schweren Erschöpfungssyndrom und ist deshalb nicht mehr in der Lage, seinem Beruf nachzugehen. Er stellt nach langem Zögern einen Rentenantrag und wird zu einem neurologischen Gutachten einbestellt. Die Rente wird abgelehnt, weil der Gutachter unter anderem schreibt, dass die subjektiv empfundene leichte Erschöpfbarkeit nicht auf die MS zurückzuführen sei, da im Kernspintomogramm nur geringgradige Veränderungen, also nur wenige Herde, nachweisbar wären. Deshalb müsse man von einer erheblichen „psychogenen Überlagerung" ausgehen. Damit meint der Arzt wohl, dass zwar eine leichte Form der MS vorliege, diese aber unmöglich die Ursache für die ausgeprägte Belastungsschwäche sein könne. Also handelt es sich entweder um einen Menschen, der mit einem „schwachen Nerven-kostüm" zur Welt gekommen ist oder aber um eine Rentenneurose. Das ist ein Fehlurteil. Es ist viel zu wenig bekannt, dass der Grad der Erschöpfung in keinem Zusammenhang mit radiologisch fassbaren Hirnveränderungen steht, sondern Ausdruck des unaufhörlich stattfindenden Abwehrkampfes gegen den un-bekannten MS-Erreger ist.

Wir müssen uns den MS-Kranken als einen chronisch Rekonvaleszenten vorstellen. Sein Zustand ist am ehesten mit jemandem zu vergleichen, der eine akute Lungenentzündung überwunden hat. Er ist auf dem besten Wege, wieder gesund zu werden, aber er ist es eben noch nicht ganz. Und die Mattigkeit, die ihn lähmt, ist durchaus kein unnützes Symptom, sondern hat ihren Sinn. Sie zwingt den Genesenden, die Ruhe einzuhalten, die der Körper braucht, um die Krankheit vollständig zu überwinden. Genauso ist es bei der MS. Das Fatigue-Syndrom ist eine vernünftige Stimme des Körpers, die den Patienten sofort warnt, wenn er sich überlastet. Sie ist sehr ernst zu nehmen, und wer sie ignoriert, riskiert, dass die Krankheit aus dem Ruder läuft.

III. Sind MS-Patienten euphorisch?

Es zieht sich leider wie ein roter Faden durch meinen Vortrag: In nahezu jeder Hinsicht wird MS-Patienten etwas unterstellt: Zunächst wird die Diagnose lange Zeit verkannt und die Betroffenen als Hysteriker abgestempelt. Wenn die Diagnose be-kannt ist und jemand nicht sichtbar behindert ist, wird sie hinter der vorgehaltenen Hand in Frage gestellt. Aber auch in Fällen, wo an der Diagnose kein Zweifel ist, wird gemunkelt: „Die macht es sich aber ganz schön bequem mit ihrem bisschen MS." Bewahrt sich ein MS-Patient seine Fröhlichkeit, heißt es „MS-Euphorie", und verläuft die Krankheit bei dem einen fataler als bei dem anderen, wird spekuliert, was er wohl falsch gemacht habe. In Wirklichkeit sind viele MS-Patienten sehr tapfer. Auch wenn sie von der Krankheit bereits sichtbar gezeichnet sind, versuchen sie, ein möglichst normales Leben zu führen. Trotz aller Rückschläge lassen sie den Mut nicht sinken, und es ist erstaunlich, wie heiter und gelassen manche ihre Krankheit akzeptieren. Das war auch schon dem französischen Arzt Charcot aufgefallen, und er hatte diese Eigenart von MS-Patienten als „MS-Euphorie" oder auch als belle indifférence bezeichnet, als die schöne Gleichgültigkeit. Wie sehr ein Wort verletzen kann, soll der nächste Fall zei-gen. Frau H. ist eine Seele von einem Menschen. Sie hat ihre MS seit mehr als 15 Jahren und ist nicht wesentlich behindert. Sie zeichnet sich durch einen unerschütterlichen Optimismus aus, der sich auch auf ihre Umgebung auswirkt. Es gibt kaum jemanden, der sich so liebevoll um seine Mitpatienten kümmert wie sie, und sie schafft es immer wieder, gerade denen, die am verzweifeltsten sind, Mut zuzusprechen. Beim letzten Aufenthalt in einer Reha-Klinik hatte sie das Pech, von einem jungen Arzt betreut zu werden, der sie nicht kannte und deswegen zu einem völlig falschen Urteil kam. Er hatte noch nicht viele MS-Patienten behandelt, und seine Kenntnisse beruhten im wesentlichen auf Buchwissen. So fand er in Frau H. genau das bestätigt, was er über die euphorische Wesensänderung bei der MS gelesen hatte und beschrieb es auch so im Entlassungsbericht. Er meinte es nicht böse, aber viele Patienten fühlen sich zu Recht gekränkt, wenn sie sich in einem Arztbericht als „wesens-geändert" oder „unangemessen heiter" abqualifiziert sehen. Die Rede von der Eu-phorie der MS-Kranken hat etwas Entwürdigendes und sollte vermieden werden.

Sind MS-Patienten hysterisch?

Ebenso irreführend und abwertend wie der Begriff „Euphorie" ist der Begriff „Hysterie", der häufig mit der Euphorie verwechselt wird. Die Hysterie als Begriff ist so schillernd wie die Persönlichkeitsstruktur, die er beschreibt. Als „hysterisch“ wird jemand bezeichnet, der gern auffällt, der immer im Mittelpunkt stehen will, der ausgefallene Kleidung bevorzugt, immer zu spät kommt, aber trotzdem ein gerngesehener Gast auf allen Geselligkeiten ist, weil er die Menschen durch seine unkonventionelle Art mitreißt und bezaubert. Das schillernde Spektrum von bizarr anmutenden Beschwerden und Symptomen bei der MS hat von jeher die Ärzte zunächst zu einer psychogenen Deutung verführt. Erschwerend kommt hinzu, dass MS-Patienten häufig Wesenszüge aufweisen, die leicht mit einer Hysterie verwechselt werden können. In diesem Zusammenhang möchte ich kurz auf das Schicksal von Jacqueline du Pré eingehen, die als die prominenteste MS-Betroffene gilt. Im Alter von 5 Jahren begann sie, Cello zu spielen, wurde zu einem Wunderkind und heiratete nach ihren ersten großen internationalen Erfolgen mit 21 Jahren den berühmten Pia-nisten und Dirigenten Daniel Barenboim. Etwa zu dieser Zeit erkrankte sie am Pfeifferschen Drüsenfieber. Es folgten 5 anstrengende Jahre mit Tourneen durch alle 5 Kontinente. Dann brach sie erschöpft zusammen. Ein Jahr lang rührte sie ihr Cello nicht mehr an. Als sie danach erneut auftrat, schien sie auf der Höhe ihrer Künstlerschaft zu sein, aber kurze Zeit später kam es während eines Konzertes mit Leonard Bernstein zur Katastrophe. Sie konnte die Saiten ihres Cellos nicht mehr unter ihren Fingern spüren. Das Konzert endete in einem Desaster. Leonard Bernstein brachte sie anschließend in eine Klinik, in der eine MS diagnostiziert wurde. Sie war gerade 28 Jahre alt und sollte nie wieder auf der Bühne stehen. Alle, die Jacqueline selbst erleben durften oder sie in Fernsehaufzeichnungen ihrer Konzerte gesehen haben, werden sie nie vergessen mit ihren langen blonden Haaren, die ihr während ihres temperamentvollen Spiels wild um den Kopf flatterten, und einem strahlenden, unwiderstehlichen Lächeln. Jacqueline war von ihrem Ehemann immer „Smiley" genannt worden, weil er niemals jemanden getroffen habe, der so viel lache. Aber das täuschte. Ihr Leben lang war ihr Lachen eine undurchdringliche Maske. In ihrer Lebens- und Krankheitsgeschichte kommen exemplarisch alle Faktoren zu-sammen, die bei der Entstehung einer MS eine Rolle spielen und uns verwirren. Aber hat das etwas mit ihrer Krankheit zu tun? Sind Hysteriker besonders verletzlich? Neigen sie mehr als andere dazu, sich zu verausgaben und über ihre Kräfte zu leben? Sind es Menschen, die sich in Leidenschaft verzehren, aber dafür einen hohen Preis zahlen müssen? Oder besteht gar kein Zusammenhang, ist das alles Zufall? Liegt die Ursache nicht ganz einfach darin, dass sie in besonders schwerer Form vom Pfeifferschen Drüsenfieber befallen worden war? Um sich einer Antwort anzunähern, muss man versuchen, sich ein wenig in den MS-Kranken hineinzuversetzen. Auch wenn er seine Diagnose noch nicht kennt, fühlt er, dass da etwas Unverständliches in seinem Körper geschieht. Er versucht sich psychisch zu wehren, geht pfeifend oder summend durch die Räume, lacht bei jeder sich bietenden Gelegenheit, um sich abzulenken, um nicht ständig an das den-ken zu müssen, was ihn auf dem Grund seiner Seele ständig beunruhigt und quält. Er spielt "Tapfersein", wie z.B. ein Mensch, der nachts laut singend durch einen dunklen Wald geht, um seine Angst zu verdrängen. Jeder von uns hat hysterische Anteile in geringerer oder stärkerer Ausprägung: Sie sind der Schuß Sekt in unserem Blut, der uns quirlig, manchmal aber auch etwas anstrengend macht. Aber man muß wissen, dass ein hysterischer Mensch nichts weniger als ein glücklicher Mensch ist. Oft ist er jemand, der sich nicht um seiner selbst willen geliebt fühlt, und der meint, er müsse eine liebenswürdige Person spielen, weil er selbst nicht liebenswert ist. Seine Fröhlichkeit ist ein Tanz am Abgrund, und wenn es einen Zusammenhang zwischen seiner Charakterstruktur und seiner Krankheit geben sollte, dann ist dieser eher unspezifischer Art und besteht darin, dass er in besonderer Weise dazu neigt, seine Kräfte falsch einzuschätzen und sich ständig zu verausgaben.

IV. Gibt es psychische Auslöser für die MS?

Damit befinden wir uns schon mitten auf umstrittenem Terrain: Ist die MS eine psychosomatische Krankheit und gibt es psychische Auslöser? Bereits im vorigen Jahrhundert ist aufgefallen, daß emotionale Belastungen, Kummer oder Beleidigungen eine auslösende Wirkung auf die Entstehung der Symptomatik haben können (Charcot 1872/73). Betrachten wir einen weiteren Fall: Die 21jährige Sarah R. bemerkte 1999 nach der Rückkehr von einer Urlaubsreise eine „wattige“ Mißempfindung im linken Fuß. Die Gefühlsstörung griff nach wenigen Tagen auch auf den rechten Fuß über und stieg langsam auf, bis das gesamte Bein betroffen war. Im Laufe dieser Entwicklung trat ein äußerst unangenehmes gürtelförmiges Druckgefühl in Höhe des Bauchnabels auf. Hinzu kamen elektrisierende Mißempfindungen im Nacken, wenn sie den Kopf nach vorn beugte. Und sie hatte auch Probleme mit ihren Augen. Bei bestimmten Blickrich-tungen begannen die Augäpfel unkontrolliert zu zucken, und es war ihr nicht möglich, sie auf einen Punkt einzustellen. Auf Befragen berichtet sie, dass sie vor einem halben Jahr für ein paar Tage auf dem rechten Auge verschwommen ge-sehen habe. Das Kernspintomogramm zeigt mehrere kleine weiße Punkte im Gehirn. Im Liquor waren die sogenannten oligoklonalen Banden positiv. Außerdem ist die Leitungsgeschwindigkeit im rechten Sehnerven deutlich verzögert. Damit scheint alles Wesentliche gesagt zu sein. Alle 5 Kriterien, die für die Diagnose einer MS wichtig sind, sind bei unserer Patientin erfüllt: Die Symptomatik ist mit den Missempfindungen in den Beinen, dem gürtelförmigen Druckgefühl, den „Stromstößen“ in der Wirbelsäule, den tanzenden Augen und dem vorangegangenen Verschwommensehen „bunt“, und der Verlauf ist schubförmig mit vollständiger Rückbildung der Ausfälle innerhalb von ein paar Wochen. In der Kernspintomogra-phie sind MS-typische Herde nachweisbar, das Rückenmarkswasser ist entzündlich verändert und die Leitung im rechten Sehnerven verlängert. Ich habe Ihnen ihre Krankengeschichte so geschildert, wie es allgemein üblich ist. Man könnte sie jedoch auch auf eine andere Art erzählen: Sarah erkrankte, als sie 20 Jahre alt war, an einer Sehnervenentzündung. Damals stand sie mitten im Prüfungsstress. Zwei Monate vorher war ihre Mutter gestorben. Unmittelbar nach dem Examen hatte sie eine Stelle in einer neurologischen Rehabilitationsklinik angetreten. Sie fühlte sich als blutige Anfängerin und hatte gehofft, wenigstens zu Beginn von jemand Erfahrenem unter die Fittiche genommen zu werden. Aber da es der Klinik finanziell nicht gut ging und die Belegung stark schwankte, war die krankengymnastische Abteilung unterbesetzt. So wurde sie gleich voll eingespannt, und sie fühlte sich total überfordert. Als ein junger Mann, den sie behandelte, Selbstmord beging, hätte sie jemanden gebraucht, mit dem sie hätte reden können. Unglücklicherweise war die Beziehung zu ihrem Freund in eine schwere Krise geraten. Mitten im Examen hatte sie sich nämlich in einen ihrer Mitschüler verliebt. Sie versuchte, gegen ihr Gefühl anzukämpfen, aber es gelang ihr nicht, und sie trennte sich von ihm. Nach und nach merkte sie jedoch, dass sie die Leidenschaft blind gemacht und sie sich menschlich in ihrem neuen Freund getäuscht hatte, denn es stellte sich heraus, dass er zwar ein faszinierender, aber sehr selbstsüchtiger Mensch war, der sie gern hatte, wenn es ihr gut ging, aber nichts mit ihr anfangen konnte, wenn sie traurig war und Trost brauchte. Als sie im Oktober eine Urlaubsreise nach Indien unternahm, hoffte sie, dort etwas Abstand von ihren Problemen zu gewinnen. Aber die Reise war eine einzige Strapaze. Sie vertrug weder die Hitze, noch das Essen, und das Elend um sie herum belastete sie zusätzlich. Sie kam mit einem Magen-Darm-Infekt nach Deutschland zurück. Kurze Zeit später entwickelte sich der zweite Schub, der dann zur Diagnose einer MS führte. Während ich Ihnen die Hintergründe der Erkrankung von Sarah geschildert habe, werden Sie vielleicht gedacht haben: Welcher Arzt hat denn die Zeit, so geduldig zuzuhören? Tatsächlich sind viele Neurologen der Ansicht, dass die zufälligen Begleitumstände oder die charakterlichen Besonderheiten eines Menschen die Umrisse eines Krankheitsbildes verschwimmen lassen, und dass die Kunst des Arztes darin bestehe, möglichst alles Zufällige und Persönliche aus der Krankengeschichte zu entfernen, um die Krankheit selbst möglichst klar und objektiv in den Blick zu bekommen. Eine solche Vorgehensweise mag für viele Krankheiten richtig sein, für die MS ist sie es nicht. Denn ohne das Wissen um die Hintergründe geht eine wichtige Information verloren, die Information nämlich, in welchem Ausmaß die Krankheit durch die Lebensereignisse eines Menschen modelliert wird. Ich hatte bereits auf den hohen Prozentsatz stummer oder gutartiger Verläufe hingewiesen. Er gibt zu einer wichtigen Überlegung Anlaß. Wenn es nämlich ein so breites Spektrum an möglichen Verlaufsformen gibt, dann verläuft die Krankheit nicht eigengesetzlich, das heißt, ihr Verlauf hängt nicht allein von Art und Charakter der Krankheit selbst ab, sondern wird in entscheidender Weise von den Begleitumständen mitbestimmt. Julius Hackethal hat einmal die Unterscheidung zwischen einem Haustier- und einem Raubtier-Krebs getroffen. Dasselbe trifft auf die MS zu und ist eine einfache Tatsache, deren Bedeutung kaum zu überschätzen ist. Auf der einen Seite gibt es Krankheiten, die einen unverwechselbaren, eigenen Cha-rakter haben, die stur wie ein Uhrwerk ihren Gang nehmen und weitgehend davon unabhängig sind, ob sie ein Kind oder einen Greis, einen Menschen mit starken oder schwachen Abwehrkräften befallen. Am anderen Ende des Spektrums befinden sich Erkrankungen, deren Verlauf weniger von der krankheitsspezifischen Wesensart abhängen, sondern in großem Maß von den Umständen bestimmt werden, unter denen sie auftreten. Damit sind wir bei einer wichtigen Regel angelangt: Je mehr eine Krankheit von den jeweiligen Verhältnissen geformt wird, desto schwächer ist ihr eigenes Temperament bzw. ihre Angriffskraft. Oder anders formuliert: Je extremer die Lebenssituation ist, in der eine MS zum ersten Mal auftritt, desto weniger aggressiv ist sie. Im Grunde genommen geht es um die einfache Frage: Wäre sie wohl auch erkrankt, wenn nicht so viel zusammengekommen wäre: der Tod der Mutter, Prüfungsstress, eine berufliche Überlastung, der Selbstmord eines Patienten, das unglückliche Liebesverhältnis, eine strapaziöse Urlaubsreise und schließlich noch ein Magen-Darm-Infekt? Die MS ist eine Krankheit, deren wesentlicher Zug ihr labiles Gleichgewicht ist. Wenn man es mit einem Bild ausdrücken will, gleicht sie einem Stein am Rande eines Abhangs. Er wird dort friedlich liegen bleiben, wenn nichts Aussergewöhnliches passiert, aber es existiert ein gewisses Risiko, dass er durch etwas Unvorher-sehbares ins Rollen gerät: einen starker Regenguss, einen schweren Sturm oder den Stiefel eines Wanderers, der ihn in die Tiefe stößt.

Wie findet man den geeigneten Psychotherapeuten?

Sollte sich also jeder MS-Patient einer Psychotherapie unterziehen? Das ist sicherlich eine übertriebene Forderung. Aber manchmal ist man sich selbst zu nah, und man sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht. Und manchmal ist der Knoten, der einen fesselt, zu kompliziert, und man braucht jemanden, der einem hilft, ihn zu lösen. Viele Patienten haben das Gefühl, dass die „normalen“ Psychotherapeuten ihren Problemen nicht gerecht werden. Das hat im Wesentlichen drei Gründe: 1. Die Erklärungsmodelle der Neurosenlehre sind auf organische Erkrankungen schwer übertragbar; 2. Die übliche Abstinenz, d.h. Fragen nicht oder mit Gegenfragen zu beantworten und keine Gefühlsregungen zu zeigen, ist für die MS unangemessen und sollte durch das lebendige partnerschaftliche Gespräch ersetzt werden, in dem Beratung, Erklärung, Aufklärung, Trost und mitfühlendes Verständnis gleichermaßen ihren Platz haben; 3. Leider fehlen Psychotherapeuten, die in gleicher Weise Kenntnisse über ein sehr kompliziertes neurologisches Krankheitsbild und die verschlungenen Wege der Psyche haben.

Bin ich an meiner Krankheit selber schuld?

Lassen Sie mich abschließend noch einmal auf den Fall der jungen Krankengymnastin zurückkommen. Ich sehe, dass vielen von Ihnen eine Frage auf der Zunge liegt: Aber Sie wollen doch nicht etwa behaupten, dass sie an ihrer Krankheit selbst schuld sei! Auf den ersten Blick könnte es so erscheinen, als werde mit dieser Sichtweise einem Menschen, der sowieso schon unter der Zentnerlast einer bedrohlichen Krankheit leidet, nur noch eine zusätzliche Bürde aufgeladen. Ende der 70er Jahre erschien ein einflußreicher Essay mit dem Titel „Krankheit als Metapher“. Er stammte von Susan Sontag, einer amerikanischen Schriftstellerin und Journalistin, die an Brustkrebs erkrankte und sich auf Anraten ihrer Freunde auch an einen Psychotherapeuten wandte. Was sie dort am meisten erbitterte, war das Gefühl einer Unterstellung, der Unterstellung nämlich, es sei kein Zufall, dass gerade sie zu genau diesem Zeitpunkt von genau dieser Krankheit befallen worden sei. Sie fühlte sich auf einmal nicht nur wegen der düsteren Prognose ihrer Krankheit verzweifelt, sondern zusätzlich schuldig und sie schämte sich, krank zu sein. Sie beschreibt, wie man versucht habe, ihr einzureden, dass Krebs eine Krankheit sei, zu der vor allem seelisch Angeschlagene neigen. All das kam ihr ungerecht und einseitig vor. Sie sehnte sich nach einem Arzt, der ihre Krankheit als eine Krankheit betrachtete, als eine ernste Krankheit zwar, aber als eine Krankheit, weder Fluch noch Strafe noch Peinlichkeit. Eine Krankheit ohne tiefere „Bedeutung“. Ich denke, dass Susan Sontag mit ihrer bewegenden Attacke zum Teil Recht hat, und ich kann ihre Ablehnung einer übertriebenen Form der Psychologisierung gut verstehen. Sie meint, dass eine große Neigung bestehe, zufällige Begleitumstände überzuinterpretieren, wenn man die wirklichen Ursachen nicht kenne, wie das z.B. beim Magengeschwür passiert sei. Jahrzehntelang habe man Stress und hinunterge-schluckten Ärger als Ursache angeschuldigt und erst jetzt habe sich herausgestellt, dass es ein Bakterium, der Helicobacter, sei. Und genau so (sagen Hardliner) wird es bei der MS sein: Irgendwann einmal im 21. Jahrhundert wird man den Erreger entdecken und alles Gerede von Psychosomatik und gesunder Lebensweise wird sich als falsch und unangemessen erweisen. Ich bin nicht sicher, ob es so sein wird. Es wäre denkbar, dass der gesuchte MS-Erreger nur eine notwendige, aber keineswegs entscheidende Voraussetzung dafür ist, ob jemand erkrankt. Vielleicht ist der Erreger der MS an sich völlig harmlos, kommt überall vor und befällt nahezu jeden von uns. Schaden kann er nur dann stiften, wenn mehrere unglückliche Umstände zusammentreffen. Ein Beispiel ist die Endocarditis lenta, die gefürchtete Entzündung der Herzinnenwand. Der Erreger ist der vergrünende Streptococcus, der bei jedem Menschen ein harmloser Bewohner der Mundhöhle ist. Immer wieder gelangen einige Bakterien ins Blut, werden aber dort sofort vom Immunsystem angegriffen und vernichtet. Nur unter ganz ungünstigen Bedingungen, wenn die Abwehrkräfte daniederliegen, kann es passieren, dass sich ein Bakterium auf einer Herzklappe ansiedelt, sich dort ver-mehrt und diese zerstört. Zwar ist der Erreger der vergrünende Streptococcus, aber die eigentliche Grund für die Erkrankung ist die Abwehrschwäche.

MS und Psyche: Gibt es Studien?

Zu diesem Thema ist gerade eine wichtige Studie in Neurology erschienen. Monica Nortvedt hat 97 Patienten mit schubförmiger MS untersucht. Anhand von standardisierten Fragebögen wurde die Lebensqualität und die aktuellen seelischen Belastungen monatlich bestimmt. Die Patienten wurden aufgrund der erhaltenen Werte in vier Gruppen eingeteilt. Die durchschnittliche Verschlechterung des EDSS (eine Skala, die den Behinderungsgrad bei MS-Patienten misst und von 0 bis 10 reicht) innerhalb von 12 Monaten betrug für das schlechteste Viertel 0.48 und für den Rest 0.10. Mit 0.38 war der Unterschied zwischen diesen beiden Gruppen tatsächlich größer als der Behandlungseffekt in der zuletzt durchgeführten Betainterferon-Studie, in welcher die durchschnittliche jährliche Verschlechterung 0.24 für die Plazebo-Gruppe und 0.12 für die Behandlungsgruppen betrug. Das heißt: Die Lebens-umstände könnten einen stärkeren Einfluss auf das Fortschreiten der MS haben als eine Behandlung mit immunmodulierenden Medikamenten.

Psychoimmunologie

Bleibt zuletzt noch die Frage, wie sich Stress oder Traurigkeit auf unser Immunsystem auswirken können? Bis vor kurzem hatte man Lymphozyten für relativ engstirnige Kugeln gehalten, deren Oberfläche mit Rezeptoren bestückt ist, die nichts anderes als körperfremdes von körpereigenem Gewebe unterscheiden können. Aber dann fiel auf, dass die Milz, die eine hervorragende Rolle in der Immunabwehr spielt, reich mit sympathischen Nervenfasern versorgt ist. Besonders interessant war auch, dass die Nervenendigungen von Lymphozyten umlagert waren wie ein Bahnhof von Taxis. Warum eigentlich, denn bisher war man immer davon ausgegangen, dass keine Kommunikation zwischen dem Immunsystem und dem Nervensystem stattfindet? Als man genauer nachschaute, entdeckte man, dass die Lymphozytenoberfläche neben den Rezeptoren zusätzlich mit Antennen übersät ist, die auf Stress-hormone, aber auch auf Endorphine ansprechen. Lymphozyten sind also wesentlich intelligenter, vor allem aber sensibler als man bisher angenommen hatte, und stellen ein wichtiges Zwischenglied zwischen Seele und Körper dar.

Ich fasse zusammen:

1. Das chronische Fatigue- oder Müdigkeitssyndrom ist ein Kernsymptom der MS. Es hat nichts mit einem organischen Psychosyndrom, also einer geistig-seelischen Beeinträchtigung durch die MS-Herde zu tun, sondern ist Ausdruck eines ständigen Abwehrkampfes des Immunsystems.

2. Während das Fatigue-Syndrom bei nahezu allen MS-Patienten vorkommt, ist die organisch bedingte Hirnleistungsminderung (Demenz) selten. Sie wurde früher auf eine Hirnatrophie zurückgeführt. Jetzt hat sich jedoch gezeigt, dass sie die Folge einer Verschmälerung des Hirnbalkens ist, die durch eine Zerstörung von Nervenbahnen zustande kommt, die die rechte und die linke Hirnhälfte miteinander verbinden.

3. Die sogenannte MS-Euphorie ist ein mißbräuchlicher Begriff, der vermieden werden sollte. Es scheint jedoch so zu sein, dass bei der MS ein bestimmte Wesens-art häufiger als bei anderen Krankheiten vorkommt, und die am ehesten dem entspricht, was in der psychoanalytischen Typenlehre als „hysterische Struktur" bezeichnet wird. Sie ist nicht Folge der MS, sondern scheint dem MS-Erreger auf eine eher unspezifische Art einen fruchtbaren Boden zu bereiten. Menschen mit einer hysterischen Persönlichkeitsstruktur neigen entgegen der geläufigen Meinung in be-sonderer Weise dazu, ihre Beschwerden nicht zu übertreiben, sondern zu bagatelli-sieren, sich ständig zu überlasten und hinter ihrer Fröhlichkeit verbirgt sich oft eine tiefe Verzweiflung.

4. Es gibt psychische Auslöser sowohl für den Ausbruch der Erkrankung als auch die einzelnen Schübe. Diese sind nicht spezifisch. Jeder Mensch kommt mit kleinen Webfehlern zur Welt, die bei Belastungen besonders gefährdet sind. Andere Schwachstellen entstehen im Lauf des Lebens z.B. durch virale Infektionen. Und so wie eine Kette an ihrem schwächsten Glied reißt, so wird sich die Überforderung oder der Mißbrauch des Körpers dort bemerkbar machen, wo er am anfälligsten ist. Der eine kommt mit einer Schwäche der Bronchien zur Welt, der zweite neigt zu Kopfschmerzen, dem dritten schlägt alles auf den Magen und der vierte hat es mit dem Kreuz. Bei Belastungen jedweder Art, seien sie körperlicher oder seelischer Natur, sind diese in besonderer Weise gefährdet. Dieser „Ort der geschwächten Widerstandskraft" ist bei der MS das Myelin.

5. Die körpereigene Abwehr ist kein reines physikalisch-chemisches System, sondern reagiert empfindlich auf jede seelische Schwankung. Dass Hoffnung heilt und Verzweiflung tötet, ist nach den neuesten Erkenntnissen der Psychoimmunologie nicht mehr der irrationale Glaube von Schamanen und Wunderheilern, sondern eine wissenschaftlich bestätigte Tatsache.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

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Artikel von Dr. Wolfgang Weihe
MS-Euphorie und MS-Hysterie: Zwischen zwei Mühlsteinen

Das Dienstmädchen Luc erkrankte an so rätselhaften Symptomen, daß sie das Interesse ihres Dienstherrn, des berühmten Pariser Neurologen Jean Martin Charcot, erregte. Ihr Krankheitsbild wurde zur Grundlage der klassischen Erstbeschreibung der multiplen Sklerose (MS). Neben einer ungewöhnlichen Form des Zitterns und der abgehackt wirkenden Sprechweise fiel Charcot auf, daß der jungen Frau das langsame Fortschreiten der Erkrankung wenig auszumachen schien; sie war heiter, ja geradezu überschwenglich. Er fand diese seelische Eigenart so bemerkenswert, daß er sie zusammen mit dem Nystagmus, dem Intentionstremor und der skandierenden Sprache als Euphorie (schöne Stimmung) seiner berühmten MS-Trias hinzufügte. Obwohl die Charcotsche Trias selten ist und bei weniger als 1% der Betroffenen vorkommt, hat sich bis heute die Vorstellung gehalten, MS-Kranke wiesen eine besondere Wesensart auf, die durch Sorglosigkeit, Krankheitsverdrängung und einer unerschütterlichen Begeisterung neuen Heilmethoden gegenüber gekennzeichnet sei. Hierbei handelt es sich um ein zählebiges Vorurteil, das viel zur Stigmatisierung und Diskriminierung von MS-Betroffenen beigetragen hat. Vor allem sollte es sich als folgenschwer herausstellen, daß sich Charcot neben der MS ausgiebig mit der Hysterie beschäftigte. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es noch keine strikte Trennung von körperlichen und seelischen Krankheiten, und sogar die sogenannten „hysterischen“ Lähmungen wurden von Charcot keineswegs als eingebildet oder vorgetäuscht angesehen, sondern als „funktionelle“ Störung aufgefaßt. Darunter verstand er eine nicht sichtbare, aber gleichwohl vorhandene Schädigung der Hirnrinde, die durch eine seelische „Erschütterung“ ausgelöst wurde.

In gleicher Weise, wie für die Hysterie organische Ursachen angenommen wurden, hielt man bei der MS eine seelische Mitbeteiligung für wahrscheinlich. Charcot nahm nicht nur eine spezifische, das Auftreten der Erkrankung fördernde MS-Persönlichkeit an, sondern war auch überzeugt, daß die MS durch Kummer, Ärger und Lebenskrisen ausgelöst werde. Hinsichtlich des organischen Pols der Euphorie gab es zwei leicht voneinander abweichende Auffassungen. Die einen vermuteten eine umschriebene Schädigung eines Hirnzentrums, das für die Kritikfähigkeit zuständig sei, die anderen faßten die „unangemessen heitere“ Stimmungslage als die Folge einer diffusen Hirnschädigung durch die verstreuten MS-Herde auf. Damit war der Hysterie-Begriff jedoch keineswegs in Vergessenheit geraten, allerdings wurde er in entscheidender Weise umgedeutet und zwar durch Charcots Schüler Sigmund Freud. Dieser lehnte die Annahme einer „unsichtbaren“ organischen Schädigung bei der Hysterie ab und entwickelte seine Neurosenlehre, also das heute allgemein akzeptierte Konzept von seelischen Krankheiten, die rein seelisch bedingt sind und kein organisches Substrat haben. In der Folgezeit stellte man sich den normalen („ausgeglichenen“) Menschen als eine gesunde Mischung von vier Persönlichkeitsanteilen vorstellte: dem Depressiven, Zwanghaften, Schizoiden und Hysterischen, während beim Neurotiker einer dieser Anteile übermäßig in den Vordergrund rücke. In dieser Sichtweise haben Menschen mit einem dominierenden hysterischen Anteil das unstillbare Bedürfnis, im Mittelpunkt zu stehen. Sie sind leicht zu begeistern, aber auch schnell zu enttäuschen, und sie neigen dazu, die Augen vor der rauhen Wirklichkeit zu verschließen.

Da der Laie jedoch unter einem Hysteriker etwas ganz anders versteht, nämlich jemanden, der sich Krankheiten einbildet, oder sich durch körperliche Symptome wichtig machen will, bestehen somit drei verschiedene Auffassungen nebeneinander: Der Patient mit einer hysterischen Lähmung, bei dem eine schwere seelische Belastung zu einer unsichtbaren oder sichtbaren Schädigung der Hirnrinde geführt hat, das Hysterische als Persönlichkeitsstörung und der Hysteriker als eingebildeter Kranker. Die Situation ist also verwirrend, und es hat immer wieder Ärzte gegeben, welche die Existenz sowohl einer MS-Euphorie als auch einer MS-Hysterie rundweg bestritten und beide Begriffe für Klischees hielten. Beide Eigenschaften seien nur deshalb so häufig bei MS-Kranken zu finden, weil man mit gezielter Aufmerksamkeit danach suche. Bei unvoreingenommener Betrachtungsweise seien sogar depressive Verstimmungen bei MS-Kranken wesentlich häufiger als euphorische. Trotz dieser gelegentlich geäußerten Einwände ist die MS wie die Hysterie ein merkwürdiges Zwitterwesen zwischen körperlicher und seelischer Krankheit geblieben, was zu vielen Mißverständnissen und zu Kränkungen führt, da die Betroffenen sowohl der mißbräuchlichen Verwendung des Wortes Hysterie als auch des Wortes Euphorie ausgeliefert sind. Normale menschliche Gefühlsregungen und Stimmungsschwankungen werden vor dem Hintergrund einer fragwürdigen psychiatrischen Klassifikation gedeutet und erscheinen in einem verzerrenden Licht. Aus dieser Sicht wird die Platzangst im Kernspintomographen zu einem Beleg für eine Persönlichkeitsstörung und die Sorge, ein leichtes, früher vielleicht unbeachtet gebliebenes Kribbeln könne der Beginn eines neuen Schubes sein, zur neurotischen Überängstlichkeit. So ist der Kranke schutzlos einer unkritischen Psychologisierung ausgesetzt. Das betrifft in gleicher Weise Ärzte wie wohlmeinende Angehörige und Freunde und findet seinen Niederschlag in Äußerungen wie: „Du beschäftigst dich zu viel mit deiner Krankheit.“ „Man kann sich Symptome auch einbilden.“ „Vieles hast du dir auch selbst zuzuschreiben.“ Wegen ihrer schillernden Symptomatik überrascht es nicht, daß die MS trotz der verbesserten diagnostischen Möglichkeiten noch immer die Krankheit ist, die am häufigsten als Hysterie verkannt wird.

Ein prominentes Beispiel ist die Cellistin Jacqueline du Pré. Sie hatte eine geradezu klassische hysterische Persönlichkeitsstruktur und wird jedem unvergeßlich bleiben, der sie einmal auf der Bühne erlebt hat. Während ihres temperamentvollen Spiels flatterten ihr die langen blonden Haare wild um den Kopf, und manchmal verfingen sie sich sogar zwischen ihren Fingern und den Saiten ihres Instruments. Ihre eindeutigen MS-Symptome wurden vier Jahre lang als nervöse Erschöpfung bzw. neurotische Störung mißdeutet. Ihr Problem war nicht, daß sie ihre Beschwerden übertrieb, sondern daß sie sie nicht wahrnehmen wollte und sie bagatellisierte. Von ihren Freunden wurde sie „Smiley" genannt, weil sie so gern lachte. Aber ihre Heiterkeit täuschte. Ganz allgemein wird der hysterische Mensch als ein besonders glücklicher Mensch angesehen, und diese sehr oberflächliche Einschätzung wird auch auf MS-Kranke übertragen, wie es in dem Begriff der „belle indifférence“, der schönen Gleichgültigkeit, zum Ausdruck kommt. In Wirklichkeit sind sie jedoch nichts weniger als gleichgültig. Auch wenn sie ihre Diagnose noch nicht kennen, fühlen sie, daß etwas Unverständliches in ihrem Körper geschieht. Sie versuchen sich abzulenken und lachen bei jeder sich bietenden Gelegenheit, um nicht ständig an das denken zu müssen, was sie auf dem Grund ihrer Seele beunruhigt und quält. Während der Begriff Hysterie dadurch verletzt, daß er widersprüchlich und abwertend gebraucht wird, liegt die Gefahr des Begriffes Euphorie darin, daß er in Fällen leichter Ausprägung nicht trennscharf ist.

Vor kurzem hatte ich die Gelegenheit, die in Frankfurt lebende Schriftstellerin Anja Lundholm kennenzulernen. Als Halbjüdin floh sie 1938 aus Nazi-Deutschland und arbeitete in Rom im Untergrund, bis sie an die Gestapo verraten wurde. In den fünfziger Jahren erkrankte sie an einer MS. Die jetzt 83-Jährige erzählte mir scheinbar distanziert vom Freitod ihrer jüdischen Mutter, die ihren arischen Mann nach den Geschehnissen in der Reichskristallnacht durch ihre Existenz nicht weiter gefährden wollte, von der Nacht in der Todeszelle einer römischen Villa und dem frühen Tod der eigenen Kinder. Das KZ Ravensbrück habe sie nur überlebt, indem sie sich zum Clown des Lagers gemacht habe und nicht nur ihre Leidensgefährtinnen, sondern sogar die Aufseherinnen zum Lachen brachte.

Wie wenig das mit Ausblendung zu tun hatte, wurde in beklemmender Weise deutlich, als sie erzählte, wie sie einmal heimlich in die Abstellkammern ging, wo die Leichen wie Holzscheite übereinander gestapelt lagen, und sie versuchte, in ihren Gesichtern mit den offenen Mündern und fehlenden Augen etwas über das Geheimnis des Todes zu erfahren. In dieser schauerlichen Situation kam sie zu der Gewißheit, daß nichts von dem, was ein beseelter Mensch wirklich ist, sterben kann. Das, zusammen mit der Hoffnung, daß sich alles wendet, selbst das Schrecklichste, half ihr zu überleben. Lächelnd berichtete sie, wie später ein Arzt die Diagnose einer MS-Euphorie stellte. Viele MS-Kranke befinden sich unverschuldet in einer äußerst vertrackten Situation, indem sie zwischen dem vieldeutigen Begriff der Hysterie und dem schlecht definierten Begriff der Euphorie zerrieben werden wie zwischen zwei Mühlsteinen. Zunächst wird die Diagnose lange Zeit verkannt und die Betroffenen als Hysteriker abgestempelt. Wenn die Diagnose bekannt ist und jemand nicht sichtbar behindert ist, wird sie hinter der vorgehaltenen Hand in Frage gestellt. Aber auch in Fällen, wo an der Diagnose kein Zweifel ist, und eine leichte Erschöpfbarkeit im Vordergrund steht, wird gemunkelt: „Die macht es sich aber ganz schön bequem mit ihrem bißchen MS." Bewahrt sich ein MS-Patient seine Fröhlichkeit, heißt es „MS-Euphorie", und verläuft die Krankheit bei dem einen fataler als bei dem anderen, wird spekuliert, was er wohl falsch gemacht habe. Nicht zuletzt sollten wir Ärzte uns vor Augen halten, daß es dem Laien kaum möglich ist, auseinanderzuhalten, ob die Bezeichnung "hysterisch" wissenschaftlich gemeint oder abwertend verwendet wird, und daß auch eine vorsichtige Ausdrucksweise wie „Verdacht auf leichte Minderung der Kritikfähigkeit“ nicht weniger verletzend ist wie die Formulierung „Verdacht auf leichten Schwachsinn“. MS-Forum Dr. Weihe

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